Ein Besuch Patricio Guzmáns in seinem Heimatland Chile war der Anlass zu diesem persönlichen Filmessay. Der 78-jährige Regisseur schlägt poetisch Brücken zwischen Natur und Diktatur, schmerzlichen Erinnerungen und aktuellen Analysen.
Der Film des renommierten chilenischen Regisseurs Patricio Guzmán beginnt scheinbar harmlos: In grandiosen Panoramen zeigt er die verschneiten Bergspitzen der Anden und das Häusermeer von Santiago, das zwischen dicken Wolken hervorlugt. Die Vogelperspektive ist kein Zufall, kehrt der Filmemacher doch einmal mehr aus dem Exil in Paris in die Heimat zurück.
Guzmán, der nach dem Militärputsch von Augusto Pinochet 1973 für zwei Wochen inhaftiert und gefoltert wurde und dann über Kuba und Spanien nach Frankreich emigrierte, gilt als einer der wichtigsten Chronisten der chilenischen Zeitgeschichte. In rund 20 Filmen hat er sich immer wieder mit Chile auseinandergesetzt. „Die Kordillere der Träume“, auf dem Filmfestival in Cannes 2019 mit dem Golden Eye als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet, ist der Schlussstein in der Erinnerungstrilogie Guzmáns: Nachdem er in „Nostalgia de la luz“ (2010) die Atacamawüste im Norden Chiles erkundet hatte, reiste er für „Der Perlmuttknopf“ (2015) nach Patagonien im Süden. In seinem neuen Film stilisiert er die Felsen des Andenmassivs, das sich über mehr als 4000 Kilometer durch das Land zieht und mehr als 80 Prozent der Landesfläche ausmacht, zu stummen Zeugen einer gewaltsamen Geschichte. Immer wieder hält die Kamera auf Gipfel in der Ferne und rissige Steinplatten in der Nähe, die eruptive Rauchsäule eines Vulkanausbruchs wird zum Symbol für den Putsch. Dazu gibt Guzmán mit sonorer Stimme aus dem Off Erinnerungen preis und sinniert über die vielen „Verschwundenen“ der Pinochet-Diktatur von 1973 bis 1990.
Wie in den beiden Vorgängerwerken verbindet der Filmautor Impressionen der Landschaft und Gespräche mit Menschen, Reflexionen über Geschichte und Gegenwart, historische Filmdokumente und aktuelle Aufnahmen. Er taucht in seine Kindheit und Jugend ein und zeigt in einer faszinierenden Sequenz sein mit Graffitis übersätes Elternhaus in Santiago: Als die Kamera langsam hochfährt, erkennt man, dass es nur noch eine Ruine ohne Dach ist.
In Rückblenden rekapituliert Guzmán die Aufbruchsjahre unter Präsident Salvador Allende sowie die Jahrzehnte der Diktatur mit Verfolgung und Terror. In intensiven Gesprächen mit zwei Bildhauern, einem Schriftsteller, einem Maler und einem Vulkanologen tauscht er sich über die unterschiedlichen Erfahrungen von Chilenen aus, die mal geblieben, mal geflohen sind, und reflektiert auch seine Einsamkeit im Dauerexil. In der zweiten Hälfte des Films nimmt der Filmemacherkollege Pablo Salas eine dominierende Stellung ein, der seit 1982 das Zeitgeschehen in Chile dokumentiert und das wunderbarerweise ohne Schaden überstanden hat. Seine Aufnahmen von Protestmärschen gegen Pinochet und von aktuellen Demonstrationen für Frauenrechte, Bildung und höhere Renten hat er in einem einzigartigen Privatarchiv gesammelt. Sie werden für Guzmán, der sich für die Hilfestellung herzlich bedankt, zu einer unerschöpflichen Bilderquelle.
Salas und der scharf analysierende Schriftsteller Jorge Baradit avancieren im Schlussteil zu wichtigen Zeitzeugen, die die Perspektive entscheidend erweitern. Ausgehend von der facettenreichen Durchleuchtung der Schreckensherrschaft des Diktators zeigen sie auf, wie die damaligen Verbrechen von vielen Chilenen weitgehend verdrängt wurden und wie das von der Chicagoer Schule geprägte marktradikale Wirtschaftssystem, das Pinochet in der Verfassung von 1980 festschrieb, bis heute fortwirkt und dafür sorgt, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnet.
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