Als Anfang der 1980er Jahre die Zuckerpreise sinken und die Arbeitslosigkeit steigt, erlaubt Staatschef Fidel Castro Kubanerinnen und Kubanern, ins Ausland zu gehen. Die folgende Massenflucht ist das Leitmotiv von Wendy Guerras autobiographischem Roman „Alle gehen fort“.
Hauptperson ist Nieve, die Tochter eines Künstlerpaares. Sie erzählt in Tagebuchform, wie zuerst ihr alkoholkranker Vater geht, der das Sorgerecht für sie erstritten und sie immer wieder geschlagen hatte. Dann geht der Schwede Fausto, mit dem ihre unkonventionelle Mutter nach der Trennung vom Vater in Cienfuegos zusammen wohnte. Bei beiden erlebte Nieve eine unbeschwerte Kindheit. Ihre Jugend verbringt das Mädchen nach der Ausreise der beiden Männer zusammen mit ihrer Mutter in Havanna, wo sie Kunst studiert und ihren Platz im Leben sucht. Gleichzeitig verlassen Freunde und Bekannte die Insel. Auch Nieves erste Liebe, der Maler Oswaldo, geht nach Paris. Sie soll nachkommen, doch das scheitert und so bleibt sie zusammen mit ihrer Mutter auf Kuba und führt weiterhin Tagebuch: „ Ich überwintere in meinen Gedanken“.
Wendy Guerra (Jahrgang 1970) hat ihren autobiographisch geprägten Roman in zwei Teile aufgeteilt. Im „Tagebuch der Kindheit“ (1978-1980) muss ihr Alter Ego Nieve als Schülerin noch an „Sollen-sie-doch-gehen-Aktionen“ teilnehmen, in denen Ausreisewillige beschimpft oder gar geschlagen werden. Im „Tagebuch der Jugend“ erzählt sie dann von der Zeit der massenhaften Auswanderung zwischen 1986 und 1990. Guerra, die bereits als Siebzehnjährige auf Kuba einen ersten Gedichtband veröffentlicht hat, lässt in ihrer blumigen Wortwahl auch ihre Liebe zur Poesie aufscheinen. Immer wieder streut sie lyrische Verse in den Prosatext ein. Das Tagebuch bezeichnet ihre Protagonistin als „wahren Beichtvater“ und bekennt: „Ich musste mich immer wieder von Lebensfetzen trennen, an jedem neuen Ort, an den man mich schleppte. Heute weiß ich nicht, wie ich mir meine Welt erschaffen soll aus den Sprengseln, die in meinem persönlichen Territorium liegen wie gesiebter Sand.“
Als Entwicklungsroman sind die Tagebücher der Nieve spannend zu lesen und vermitteln eine ereignisreiche persönliche Geschichte. Doch wenn es um Guerras Anspruch geht, auch „die Geschichte einer Nation“ zu erzählen, wäre etwas mehr historischer Kontext hilfreich, als ihn der Verlag mit „Worterklärungen“ am Ende des Buches liefert. Auch Guerra selbst thematisiert das in ihrem Roman. Antonio, Nieves zweiter Liebhaber, darf die Tagebücher lesen und gibt bei allem Lob zu bedenken: „Ein Leben kann man nicht erzählen, ohne dass man Ereignisse erzählt, die es immer wieder geprägt haben.“
Der offizielle Kulturbetrieb Kubas ignorierte Guerra nach der Erstveröffentlichung des Romans 2006 in Barcelona, in Spanien und Frankreich wurde sie dafür ausgezeichnet. Nun können erstmals deutschsprachige Leserinnen und Leser die literarisch-lyrischen Qualitäten des Romans genießen. Ihr Interesse an Kuba wird sicherlich geweckt, Informationen erhalten sie als Puzzleteile. Ein anspruchsvolles und lesenswertes Buch.
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