Originelle Thesen über Wandel und Beharrung

Wenn Gesellschaften sich wandeln, ruft das Widerstand hervor. Der Autor begreift den Impuls, an Überkommenem festzuhalten, als universell und fragt nach seinen Wurzeln und Auswirkungen.

Der emeritierte Soziologe Peter Waldmann hat sich lange mit nachholender Entwicklung beschäftigt. Ihm ist aufgefallen, dass sie in der Regel Gegenkräfte hervorruft, die Entwicklung aufhalten oder in eine andere Richtung lenken. Und erfolgreiche Modernisierungsschübe würden oft begleitet von der Hinwendung zu Traditionen aus der „guten alten Zeit“ – etwa zu Heiligenkulten in Spanien nach 1975.

Dahinter, sagt Waldmann, steckten nicht nur privilegierte Gruppen, die ihre Macht oder ihren Reichtum bewahren wollen. Sondern viele Neuerungen stellten für Einzelne wie für Kollektive auch vertraute Weltdeutungen und Werte in Frage. Das Bedürfnis, diese „Sinnebene“ und den Wandel in Einklang zu bringen, bestimme stärker über den Umgang mit Veränderungen als Machtkalküle und wirtschaftliche Interessen.

An Altem festzuhalten, ist für Waldmann demnach eine eher unwillkürliche Reaktion. Wie stark oder schwach sie ist, hänge von drei Faktoren ab: Je mehr sich Menschen freiwillig auf Veränderungen einlassen und je offensichtlicher diese unumkehrbar sind, desto eher würden sie akzeptiert. Der dritte Faktor sei das Tempo des Wandels: je schneller, desto stärker die Gegenkräfte.

Diesen „konservativen Impuls“ findet Waldmann bei persönlichen Verlusterfahrungen, etwa beim Tod eines Angehörigen, ebenso wie in kollektiven Prozessen, etwa Revolutionen und Umbrüchen in der Wirtschaft. Das macht den Begriff etwas unscharf. Sein Wert ist am klarsten, wo Waldmann Identitätskonflikte unter Zuwanderern betrachtet und verständlich macht, dass deren Kinder oft auf Traditionen aus dem Heimatland zurückgreifen – und sie dabei neu deuten.

Weniger einsichtig ist die Anwendung auf die Revolutionen in Frankreich und Spanien. Waldmanns Beobachtungen dazu sind spannend – etwa, dass erst die Diktaturen Napoleons beziehungsweise Francos dort den Bürgerkrieg stilllegten und dann selbst den Wandel vorantrieben. Was es zur Erklärung dieses Musters beiträgt, es „konservativer Impuls“ zu nennen, wird aber nicht ganz klar. Anders für die islamische Revolution im Iran 1979: Der Versuch des Schahs, das Land zwangsweise zu modernisieren, hat, wie der Autor schreibt, Widerstand provoziert, der auf überkommene Bilder von „guter Regierung“ zurückgriff. Das Ergebnis sei eine „konservative“ Revolution gewesen – ein Beispiel, dass der konservative Impuls Wandel auch vorantreiben könne.

Schließlich wendet Waldmann sein Konzept auf die nachholende Modernisierung in Südkorea, Argentinien und dem Baskenland an. Ein Schluss lautet: Wegen des konservativen Impulses sei für erfolgreichen sozialen Wandel ein „Identitätsmanagement“ wichtig, so dass die Identitäten „Südkoreaner“ oder „Basken“ mit den Veränderungen vereinbar bleiben.

Waldmann fasst den konservativen Impuls als Abfolge von verknüpften Ereignissen, die sich unter bestimmten Bedingungen wiederholen – und zwar bei Einzelnen wie bei Gruppen und ganzen Gesellschaften. Wie schlüssig dieses Theorem ist, ist sekundär. Das Buch ist originell und anregend, gerade weil das Konzept manchmal etwas unfertig wirkt. Es ist auch ohne soziologische Kenntnisse gut lesbar. Und angesichts des Aufschwungs von nationalistischen und rechtspopulistischen Strömungen kommt es zur rechten Zeit. Denn Waldmann rät ernst zu nehmen, dass Wandlungsprozesse, besonders sehr schnelle, das Selbstverständnis von Menschen und Gruppen in Frage stellen und auch deswegen solche Gegenkräfte erzeugen.

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