In seinem Buch über das Prekariat berichtet der britische Wirtschaftsprofessor Guy Standing, wieviele Menschen weltweit für wenig Geld und noch weniger Sicherheit arbeiten. Und fordert mehr Jobstabilität und Mitsprache als Grundlage des Zusammenlebens.
Dem „Prekariat“, der „Klasse auf dem Weg zur Entstehung“, gehört laut Standing mindestens ein Viertel der Erwachsenenbevölkerung aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsgruppen in vielen Ländern der Welt an. Auch die übrigen drei Viertel, so seine These weiter, könnten jederzeit dorthin abrutschen.
Dem Prekariat zuzugehören bedeutet für den Londoner Professor, einen Status innezuhaben, der einem Menschen nicht das Gefühl vermittelt, eine Laufbahn zu verfolgen oder über eine feste Berufsidentität zu verfügen. Die eigenen beruflichen Qualifikationen bleiben in diesem Fall unberücksichtigt oder schwinden mangels Anwendungschancen. Als Folge davon sieht Standing Frustration, Opportunismus und Zynismus, vor allem aber auch zunehmende Sympathien gegenüber rechtsextremen und populistischen Parteien im Entstehen. Der Satz „Der Konservative ist ein Liberaler, der überfallen wurde“ von Irving Kristol trifft auch auf diese Entwicklung zu: Prekäre Erfahrungen machen anfälliger für extreme Gesinnungen.
Schnell wird während des Lesens klar: Das Prekariat ist für Standing ein Symptom der Postmoderne, in der der Mensch zur Ware wird und Werte und Beziehungsgefüge relativiert werden. Symptomatisch dafür sei auch der ständige Zeitdruck der prekär Beschäftigten. Sie müssten immer mehr Zeit für Lohnarbeit aufbringen, ohne dass sie im Gegenzug ein Mehr an wirtschaftlicher Sicherheit bekämen, klagt Standing. Multitasking und permanente Flexibilität schränken aber Kreativität und Konzentration ein. Insbesondere Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund, sogenannte „Unterbürger_innen“ und „leichte Infanterie“, hätten mit Mehrfach-Belastungen aufgrund von prekären Beschäftigungen zu kämpfen. Auch betont der Autor, dass zunehmend ältere Menschen in die Arbeitsmärkte zurückkehren und subventioniert werden, wenn sie prekäre Beschäftigungen annehmen und die Löhne und Möglichkeiten Jüngerer nach unten drücken. Was wiederum die Jungen mit Statusfrustration, einer karrierelosen Zukunft und subventionierter Konkurrenz im In- und Ausland konfrontiert. Besonders eindringlich wird diese Warnung bei seiner keineswegs dramatisierten Analyse der Selbstmorde von 30 Beschäftigten der französischen Telekom zwischen 2008 und 2010.
Auch insgesamt sind Standings Analysen recht nüchtern, manchmal auch etwas zäh, insbesondere wenn er umfangreiche Informationen zu Statistiken und Unternehmen gibt. Dennoch bleibt dem Leser die Leidenschaft und das persönliche Anliegen des Autors im Kampf für soziale Gerechtigkeit nicht verborgen. Bissig, bisweilen pathetisch, plädiert er für seine Vision.
So etwa, wenn er zwei grundlegende Sicherheiten fordert: eine elementare Sicherheit des Einkommens und eine Sicherheit der Mitsprache. Vor diesem Hintergrund ist er Mitbegründer der internationalen nichtstaatlichen Organisation BIEN (Basic Income Earth Network), die sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle einsetzt.
Standing rüttelt auf, indem er sachlich und differenziert, manchmal auch pathetisch, Licht auf ein bisher wenig erforschtes Feld wirft. Er belässt es auch nicht nur bei der Kritik am allein am Profit orientierten System, sondern nennt im letzten Kapitel praktische Möglichkeiten, der Bildung des Prekariats entgegenzutreten – etwa durch eine organisierte gemeinschaftliche Vereinigung prekär Beschäftigter, Umverteilung des Finanzkapitals oder durch die Bekämpfung des Workfare Systems.
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