Selbstbestimmung und viele offene Fragen

Aktueller könnte dieser Sammelband kaum sein: In Spanien halten sezessionistische Katalanen das ganze Land in Atem, die Schotten haben nur mit knapper Mehrheit gegen die Unabhängigkeit votiert.

Weltweit fordert eine Reihe separatistischer Bewegungen einen eigenständigen Staat: in Québec, Flandern und Somaliland; derzeit am meisten von sich reden machen neben Schotten und Katalanen die Kurden im Irak, in Syrien und in der Türkei. Die 16 knappen Fallstudien des Sammelbandes stammen aus der Feder von Korrespondenten des Netzwerks „Weltreporter“. Einige stützen sich auf wenige Meinungen von Experten und Aktivisten, andere sind gründlich recherchiert und instruktiv.

Das Hauptproblem des Bandes ist indes nicht dieser Unterschied. Vielmehr insinuieren Titel und manche eilends eingefügte Überleitungen, es handele sich bei den „Separatisten“ weltweit um ein und dasselbe Phänomen. Weder gibt es aber eine derartige Einheit, noch überzeugt die Überhöhung der Separatisten zu der Ursache für „die neue Weltunordnung“. Dass den Palästinensern ein Staat verwehrt wird, hat mit „Separatismus“ nichts zu tun. In der Ukraine destabilisiert Russland mit Militärgewalt den Staat, eine nennenswerte Unabhängigkeitsbewegung hat es zuvor weder auf der Krim noch im Donbass gegeben. Putin stellt mit diesem nicht erklärten Krieg und seinen imperialen und völkischen Begründungen nicht nur die Ukraine, sondern die europäische Staatenordnung insgesamt in Frage. Wer das als „Separatismus“ abhandelt, geht einer verlogenen Propaganda auf den Leim. Und der wohl flapsig gemeinte Titel dieses Beitrags, „Che Guevara im Kohlenpott“, ist geschmacklos.

Den Autoren ist zugute zu halten, dass sie nicht naiv Partei ergreifen für die Sache der Separatisten. Vielmehr zeigen sie, dass Staaten auf Autonomie- und Sezessionsforderungen höchst unterschiedlich reagieren: Zentralismus und Repression verschärfen meist den Konflikt; dagegen kann innerstaatliche föderale Autonomie, wie am Fall Südtirol überzeugend gezeigt wird, einen ethno-territorialen Nullsummenkonflikt, der lange als unlösbar galt, beruhigen und sogar in ein Modell verwandeln.

Insgesamt bleibt aber die innere Verfasstheit der betroffenen Staaten, etwa die Differenz zwischen Demokratien und Autokratien, unterbelichtet. Seit Mussolini und Hitler Europas Staatensystem im Namen der nationalen Selbstbestimmung zerstört haben, wissen wir aber, dass diese Parole losgelöst von ihrem demokratischen Kern leicht zum gefährlichen Instrument für völkisch-imperiale Demagogen mutiert. Das kommt zu kurz, wenn das Schlusskapitel den „Abschied von der alten Welt“ resümiert, der journalistische Zugang läuft hier Gefahr, die reale Komplexität zu verfälschen. Denn es gibt gute ordnungspolitische Argumente dafür, dass die Staaten, auf denen die internationale Ordnung beruht, auf ihrer Souveränität und Integrität beharren. Zum schwierigen Spannungsverhältnis zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Souveränität der bestehenden Staaten sind ganze Regale völkerrechtlicher und historischer Studien geschrieben worden. Und das nicht ohne Grund. „Letztendlich entscheidet das Volk über seine Unabhängigkeit“ lautet der lapidare Schlusssatz dieses Sammelbandes. Aber wer definiert, wer das Volk ist? Hier fangen in Wirklichkeit die Probleme doch erst an.

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