Die brasilianische Autorin Beatriz Bracher beleuchtet in ihrem Roman die Folgen der Militärdiktatur (1964 bis 1985) für den Einzelnen und die Gesellschaft.
Den Pensionär Gustavo quälen die Erinnerungen und eine diffuse Vorstellung von Schuld. Er hat viel Zeit zur Reflexion und auch einen Anlass: Eine Schriftstellerin möchte ihn als Opfer der Diktatur interviewen, um an zeithistorisches Material zu gelangen. Das setzt Gustavo unter Druck. Wie soll er 30 Jahre nach dieser Zeit über individuelle und gesellschaftliche Traumata sprechen? Seine innere Auseinandersetzung vollzieht sich in einem langen Monolog, der keine zeitlich lineare Abfolge kennt und breiten Raum bietet für Anspielungen, Zitate und fiktionale Texte anderer Romanfiguren.
Angesichts seines Schicksals könnte sein Interviewbeitrag durchaus zum Lamento geraten: 1970 war er gefangen genommen und gefoltert worden. Seine Verfolger wollten Informationen über andere Untergrundkämpfer und Organisationsstrukturen. Dabei war Gustavo mehr Sympathisant als Aktivist, er hatte lediglich ein oder zwei untergetauchte Genossen versteckt. Noch während er im Foltergefängnis war, wurde sein Schwager, ein gewaltbereiter Kämpfer, von Soldaten ermordet. Seine Frau musste Brasilien fluchtartig verlassen und starb im französischen Exil. Sein Vater erlitt einen Schlaganfall. Körperlich versehrt kam er frei und lebte fortan mit der Ahnung, dass alle anderen ihn als Verräter betrachten.
Obwohl diese als „Kainsmal“ empfundene Verdächtigung im Monolog zunächst nur kurz aufblitzt, wird rasch klar, dass es sich um ein dauerhaftes Schuldgefühl handelt. Aus den oft weit ausholenden, dann wieder kursorisch-sprunghaften Erinnerungen lässt sich herauslesen, wie sehr es Gustavo in den folgenden Jahrzehnten beschäftigt. Hinzu kommen der Schmerz über den Zerfall der Familie, die Angst vor erneuter Verfolgung und die Vorsicht bei Meinungsäußerungen im beruflichen Umfeld. Später beobachtet er das fortwährende Leid bei anderen Personen, etwa bei einer Lehrerin, die in Panik gerät, als sie hört, wie eine Glühlampe zerbirst.
Beatriz Bracher liefert einen Text mit vielschichtiger Struktur und häufig wechselnden Perspektiven. Neben Gustavos Gedanken tauchen Evaluierungen des Schulunterrichts auf, Fragmente des autobiographisch gefärbten Romans seines jüngeren Bruders, provokante Lyrik seines Neffen sowie Auszüge aus brasilianischer Literatur und journalistischen Texten, die sich mit Verfolgung und Gewalt befassen.
Bemerkenswert sind die rasanten Wechsel: Eben noch sinniert der Romanheld über die Kindheitserinnerungen des Bruders, schon verspürt er aufgrund eines kleinen inhaltlichen Schwenks große seelische Not: „Und auf einmal bringt einer (…) alles zum Einstürzen, die Geschichte meines Zimmers und meine persönliche Geschichte, die gleichzeitig auch die Geschichte meiner Familie ist, die auf einmal ins Wanken gerät, weil sich dort in der Vergangenheit etwas verändert hat.“
Brasilien hat sich spät der gesellschaftlichen Aufarbeitung der Militärdiktatur gestellt. Der vorliegende Roman zeigt eindrucksvoll, dass die individuelle Selbstvergewisserung, die schon viel länger abläuft, ein langwieriger und schmerzhafter Prozess ist.
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