Charlotte Wiedemann: Mali oder das Ringen um Würde. Meine Reisen in einem verwundeten Land
Pantheon Verlag, München 2014, 303 Seiten, 14,99 Euro
Die Journalistin Charlotte Wiedemann hat viele Reisen nach Mali unternommen. Sie hat Menschen aus allen Gesellschaftsschichten getroffen und stellt fest: Der Staat lässt sie weitgehend im Stich.
Manche Autoren versuchen, Afrika mit einer Reise vom Mittelmeer zum Kap der guten Hoffnung zu zeigen oder gar zu erklären. Charlotte Wiedemann schreibt nur über Mali, aber sie bringt mit ihrem Buch zugleich ein Stück weit das Leben in der Sahelregion nahe. Und sie macht das ganze Dilemma von Mali verständlich, dessen instabile politische Lage sich fatal in anderen afrikanischen Staaten auswirkt.Das Buch ist eine Sammlung von Reportagen. Am besten beginnt man gleich mit der Geschichte von Tiècoura, dem ehemaligen Eisenbahner, Aktivisten und Landwirt. Mit ihm hat Wiedemann eine Zeit lang auf dem Land unter einfachsten Bedingungen gelebt, und mit ihm besucht sie die Dogon, ein Volk, das sich bei Touristen großer Beliebtheit erfreut und diesen Glücksfall entsprechend zu nutzen weiß.
In dieser wie in den anderen Geschichten erklärt die Autorin kulturelle Gepflogenheiten, lokale politische Ordnungen und familiäre Netzwerke. Sie berichtet von Festen, Hochzeiten und Dorfversammlungen sowie vom Prinzip der „Scherzverwandtschaft“, ein Phänomen, das es Maliern aus verschiedenen Volksgruppen erlaubt, bei Treffen ihre hierarchische Stellung innerhalb der Gesellschaft beiseite zu lassen und sich auf Augenhöhe zu begegnen. Wiedemann stellt Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft vor. Nur die Oberschicht, die mit für die aktuelle Lage verantwortlich ist, bleibt weitgehend hinter den hohen Mauern ihrer Villen verborgen.
Wiedemann erklärt und ordnet ein, wo es nötig ist, aber sie urteilt angenehm wenig. Sie nimmt die Leserinnen und Leser mit in viele Winkel des Landes, vom umkämpften Nordosten bis in den äußersten Westen, wo in Zukunft Uran gefördert werden könnte. Hier macht die Autorin deutlich, was sich auch in den anderen Kapiteln immer wieder zeigt: Der Staat ist nirgends präsent – und wenn er doch einmal da ist, dann nicht zum Wohle der Menschen. Ausländische Geschäftsinteressen stoßen auf keine Widerstände, selbst wenn schädliche Folgen absehbar sind. Bei Investoren und bei den malischen Eliten fehlt der Respekt vor den Rechten der Bürger. Und das nimmt den Menschen die Würde, wie es der Titel andeutet.
Das Buch korrigiert vieles von dem, was seit Beginn des Konflikts im Norden des Landes berichtet wurde. Man erfährt, weshalb Mali nie eine Modelldemokratie in Westafrika war und weshalb die Regierung zusammenfiel wie ein Kartenhaus. Verständlich ist, dass die Autorin über vermeintliche Experten oder Politiker in Industrieländern den Kopf schüttelt, die fordern, man müsse Mali „entwickeln“. Sie stuft manchen Machbarkeitstraum der Entwicklungshilfe als absurd ein. Der Ausblick stimmt nicht froh, denn wie Wiedemann darstellt, ist Mali nicht irgendein Land in Westafrika, sondern das Objekt vieler ausländischer Interessen. Das erleichtert den Aufbau einer neuen, besseren politischen Ordnung nicht. Dabei wären die Widerstände im eigenen Land schon groß genug.
Felix Ehring
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