Bolivien: Mehr Anspruch als Wirklichkeit

Die Analyse der Politikwissenschaftlerin Isabella Radhuber ist kein leichter Lesestoff – aber lohnend für alle, die tiefer in die Rohstoffpolitik Bolivens als Basis des Staatshaushaltes einsteigen wollen.

Mit der ersten Amtszeit von Präsident Evo Morales in Bolivien begann 2006 in der Andenrepublik ein Prozess, um die Rechte der indigenen Bevölkerung und ihre Stellung in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu stärken. Der Aymara und ehemalige Chef der Cocabauern-Gewerkschaft holte nicht nur Indigene in seine Regierung, sondern initiierte eine Verfassungsreform, die den plurinationalen Charakter der bolivianischen Gesellschaft anerkannte und Elemente der indianischen Philosophie in das Rechtsdenken zu integrieren versuchte.

Die Aufwertung der indigenen Völker stieß jedoch dort an ihre Grenzen, wo die ökonomischen Interessen des Staates im Vordergrund standen. Zwar ist unbestritten, dass ein größerer Teil des staatlichen Budgets bei den Armen und den bisher marginalisierten Indigenen ankommt. Dennoch ist Bolivien von einem Vorbild ethnischer Pluralität noch weit entfernt. Gegen die Reformen haben sich nicht nur die reicheren mestizischen Tiefland-Regionen der „Media Luna“ (Beni, Pando, Santa Cruz und Tarija) erhoben.

Die härtesten Auseinandersetzungen mussten mit indigenen Organisationen geführt werden. Denn das neoextraktivistische Wirtschaftsmodell, das auf dem Export unverarbeiteter Rohstoffe beruht, stellt Morales nicht in Frage: Von 2006 bis 2010 stiegen die Einnahmen aus dem Erdgasexport von 1,85 Milliarden US-Dollar auf 2,3 Milliarden US-Dollar. In der ersten Amtszeit von Morales verdreifachte sich der Anteil der Erdgaseinnahmen am Bruttonationaleinkommen.

Wer über sich die gesellschaftlichen Konflikte im plurinationalen Bolivien und das Spannungsverhältnis von Anspruch und Wirklichkeit in leicht lesbarer Form informieren will, ist mit diesem Buch nicht gut bedient. Aber wer sich die Mühe macht, die ziemlich trockenen Ausführungen zu verfolgen, wird verstehen, warum viele der Auseinandersetzungen unvermeidlich waren. Radhubers Buch beruht auf einer akademischen Arbeit, die sich jedem populärwissenschaftlichen Anspruch verweigert.

Ausführlich widmet sich Radhuber der Erdgaspolitik und unterlegt ihre Analyse mit einer Reihe von Statistiken zur Förderung und zum Export dieses Rohstoffs. Sie untersucht die Wirtschaft Boliviens mit dem Instrumentarium der in den 1970er Jahren populären Dependenztheorie und konstatiert, dass das Land in den kapitalistischen Zyklus integriert bleibt. 90 Prozent der Exporteinahmen stammen aus Rohstoffen – allen voran Erdgas.

Der Staat habe aber mit seinem Budget ein Instrument in der Hand, das den Aufbau eines echten plurinationalen Modells ermöglichen sollte, meint Radhuber. Sie plädiert für eine Finanzpolitik, die die verschiedenen autonomen Ebenen, einschließlich der indigenen, berücksichtigt und eine Umverteilung zum Ziel hat. Ein plurales Wirtschaftsmodell sollte, wie in der Verfassung vorgesehen, die staatliche, die private und die gewerkschaftliche Wirtschaftsform  umfassen.

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