Straßenblockierer sind keine Terroristen

Letzte Generation
Protest gegen herrschende Verhältnisse darf auch mal über die Grenzen des Erlaubten hinausgehen, kommentiert Tillmann Elliesen.

Tillmann Elliesen ist Redakteur bei "welt-sichten".
Eine brutale Hitzewelle im Jahr 2025 fordert in Indien innerhalb weniger Wochen Millionen Todesopfer. Die Welt bewegt sich weiterhin nur in Trippelschritten Richtung Klimaschutz, die CO2-Emissionen steigen und steigen. Irgendwann bringt eine Terrorgruppe namens Children of Kali, benannt nach der indischen Göttin des Todes, der Zerstörung und der Erneuerung, mittels Sabotage 40 Verkehrsflugzeuge zum Absturz. Von einem Tag auf den anderen kommt der internationale Flugverkehr zum Erliegen und wird sich auch nicht mehr davon erholen. Ausgedacht hat sich dieses Szenario der amerikanische Schriftsteller Kim Stanley Robinson in seinem Roman „Das Ministerium für die Zukunft“. Darin geht es um den künftigen Kampf in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft gegen die Erderhitzung.

Im europäischen Hitze- und Waldbrandsommer 2022 kleben sich junge Frauen und Männer in deutschen Großstädten auf Straßen fest und bringen den Autoverkehr zum Erliegen, wenigstens für kurze Zeit. Im selben Sommer veröffentlicht eine Gruppe internationaler Wissenschaftler eine Studie mit dem Titel „Klima-Endspiel“. Darin skizzieren sie, wie ein ungebremster Klimawandel im schlimmsten Fall zum Kollaps unserer Zivilisation führen könnte. Der Bericht hat nur wenig Aufmerksamkeit bekommen, die jungen Leute von der „Letzten Generation“ dafür umso mehr. Die Reaktionen in Politik und Medien auf ihre Protestaktionen waren meistens ablehnend – eine Mischung aus spießiger Empörung, altkluger Besserwisserei, null Einfühlungsvermögen für die Beweggründe der Aktivisten und vor allem hysterischer Hetze.

Mario Czaja, der Generalsekretär der CDU, fordert, die Straßenblockierer sollten genauso wie Hooligans vor angekündigten Aktionen präventiv verhaftet werden – womit er beweist, dass er nicht zwischen Fußballkrawall und politisch motiviertem Protest unterscheiden kann. Der Regensburger Politologe Alexander Straßner fühlt sich bei der „Letzten Generation“ an die ersten Mitglieder der RAF-Terroristen erinnert, und der Pressesprecher der Berliner Polizei sieht die ausgebremsten Autofahrer in „Geiselhaft“ genommen. Also gewissermaßen lauter Hanns Martin Schleyers hinterm Steuer?

Auch Grünen-Politiker zeigen wenig Verständnis

Besonders enttäuschend: Auch führende Grünen-Politiker haben wenig Verständnis für die Straßenblockaden gezeigt. „Eine Demokratie lässt sich nicht erpressen“, schimpfte etwa Landwirtschaftsminister Cem Özdemir. Erpressen? Viele Grüne von heute scheinen das Bewusstsein dafür verloren zu haben, dass zum Protest gegen herrschende Verhältnisse gehört, auch mal über die Grenzen des Erlaubten hinauszugehen. Grüne Urgesteine wie Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit waren da noch aus anderem Holz geschnitzt. Die Aktionen der „Letzten Generation“ sind klassischer ziviler Ungehorsam und der ist „Teil und nicht Gegenteil von Demokratie“, wie der Politikwissenschaftler Claus Leggewie in einem Kommentar zu den Straßenblockierern zutreffend bemerkt. So gut wie kein demokratisches Recht sei ohne symbolische oder faktische Regelverletzung durchgesetzt worden, schreibt Leggewie.

Aber sind Straßenblockaden angemessen? Treffen sie die richtigen? Natürlich tun sie das. Wer etwa in Frankfurt am Main eine beliebige Hauptverkehrsader lahmlegt, trifft mit großer Wahrscheinlichkeit eine Menge Autofahrer, die es treffen sollte: solche nämlich, die genauso gut auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen könnten, wenn sie denn wollten. Der Verkehr in den Ballungszentren ist eine der großen Baustellen deutscher Klimapolitik. Autos müssten aus den Innenstädten verbannt und alternative Mittel zur Fortbewegung attraktiver gemacht werden. Aber das geschieht selbst da nicht, wo die Grünen mitregieren wie in Frankfurt. Wenn die „Letzte Generation“ Autos zum Halten zwingt, macht sie in gewisser Weise den Job, dem sich die Politik verweigert. Verkehrswende von unten.

Die teils harsche und höhnische Ablehnung der Aktionen der Klimaaktivistinnen lässt jede Empathie für die jungen Leute vermissen, für ihre Ängste und Sorgen, aber auch für ihren Drang, sich mit all ihrer Kraft zu engagieren. Und es mangelt den Kritikern an Fantasie für die kommenden politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen und Konflikte auf diesem Planeten, wenn der Klimawandel nicht gebremst wird. Die „Letzte Generation“ sind keine Ökoterroristen wie Robinsons Children of Kali. Sie öffnen lediglich den Blick in eine Zukunft, in der Not und Verzweiflung als Folge einer fortschreitenden Erderhitzung in Hass, Wut und entfesselte Gewalt umschlagen könnten. Damit scheinen die meisten Politiker und Kommentatoren überfordert zu sein. Sie sollten „Das Ministerium für die Zukunft“ lesen.

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Reichen eine schwerverletzte Frau, ein Toter? Oder doch lieber 10 Tote?
Menschen die wegen der vielleicht falschen Sicht der Dinge von Euch auf der Straße abgeschlachtet werden?
Ihr Weltenretter seid nicht anders wie die RAF, Taliban, Faschisten, Ihr seid jeder Zeit bereit die Gesundheit und das Leben anderer Menschen für Eure kranken Ideen zu opfern.

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Da sind sie wieder, die Spontis. "Macht kaputt, was Euch kaputt macht", hieß es in den 70ern und 80ern. Wieder polarisieren sie, werden bewundert und gefeiert von den einen, gefürchtet und diffamiert von den anderen. Die Medien jazzen alles mit wachsender Begeisterung hoch und verfestigen die Fronten. Wachstumsfixierter Kapitalismus, atomgläubige Energiewirtschaft, chemievernarrtes Agrobusiness – Gründe für den Kampf gegen die herrschenden Umstände gab es im Laufe der Jahre genug. Zur Wahrheit gehört, daß es zu unsäglichen Auswüchse kam wie den deutschen Herbst, ermordeten Polizisten an der Startbahn West, blindwütige Zerstörungswut und was noch. Doch der gewalttätige Protest sah sich moralisch stets auf der richtigen Seite.
Über vieles ist Gras gewachsen, wir erinnern uns mit einer gewissen Nostalgie an diese Zeiten. Aber was wurde denn konkret erreicht durch Widerstand, Krawall und Grenzüberschreitung? Dürfen wir den alten Spontis dankbar sein für ihre Erfolge und die jungen Spontis feiern für das, was da noch kommt?
Wir leben auf Kosten der nachfolgenden Generation und diese hat ein Recht auf Widerstand, so geht die Erzählung. Aber stimmt das denn? Immer musste jede Generation mit den Fehlern der vorhergehenden Generationen leben und diese im Zweifel ausbügeln. Das war nur zu erreichen mit Neugier, Bildung, Fortschritt, Wachstum. So wie wir Boomer die Erde lebenswerter gemacht haben als wir sie von unseren Eltern übernommen haben (inklusive der Freiheit, überall und jederzeit zu protestieren), so haben das unzählige Generationen vor uns getan und so müssen die Jungen das nun auch tun. Weg von den Straßen, rein in die Schulen und die Universitäten, die Zukunft mit neuen, bisher nie gedachten Ideen gestalten und möglichst alles besser machen! Und zwar bevor die Chinesen uns das auf ihre Art vormachen. Dann ist sowieso Schluß mit der Sponti-Seligkeit.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2022: Leben in Krisenzeiten
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