Mit Vorsicht zu genießen

Helfen angereicherte Lebensmittel gegen den versteckten Hunger?
Helfen angereicherte Lebensmittel gegen den versteckten Hunger?

Vitaminhaltige Erdnusspaste oder mit Mineralien angereicherter Reis: Industrie und Hilfsorganisationen setzen bei der Bekämpfung von Mangelernährung auch auf Lebensmittel mit gesunden Zusatzstoffen. Aber das Heilsversprechen der therapeutischen Fertigprodukte ist gefährlich, meint "welt-sichten"-Redakteurin Gesine Kauffmann. Denn die wahren Ursachen für die mangelhafte Ernährung rücken in den Hintergrund.

Der Hunger ist schwer zu besiegen – und er ändert sein Gesicht. Trotz aller Anstrengungen und Fortschritte haben nach Schätzungen der Welternährungsorganisation FAO weltweit noch immer 805 Millionen Menschen nicht genug zu essen. 1,4 Milliarden sind dagegen fettleibig oder zu dick. Und zwei Milliarden Frauen, Kinder und Männer leiden unter Nährstoffdefiziten: Es fehlen ihnen lebenswichtige Vitamine und Mineralien. Das kann auch bei vollem Teller der Fall sein. Zu den Folgen von Vitamin A-, Eisen-, Jod- und Zinkmangel zählen Erblindung, Verzögerungen in der körperlichen und geistigen Entwicklung und Blutarmut sowie eine erhöhte Anfälligkeit für Infekte.

Kinder können schlechter lernen, Erwachsene weniger arbeiten: Die Kosten für den Einzelnen und die Gesellschaft sind erheblich. „Mangelernährung zerstört den Körper, die Wirtschaft und die Zukunft“, bilanzieren die Autoren des „Global Nutrition Report“, der Mitte November erstmals veröffentlicht wurde. Die Wissenschaftler haben Daten von 122 Ländern aus Nord und Süd ausgewertet und sehen nahezu alle in der Pflicht, vor allem den Kampf gegen den „versteckten Hunger“, den Mangel an Nährstoffen, zu verstärken.

Eine Lösung scheint auf der Hand zu liegen: Grundnahrungsmittel wie Mehl, Mais oder Reis werden mit Vitaminen und Mineralien angereichert, um einer Unterversorgung entgegenzuwirken. Das kann mit Hilfe genetisch veränderter, nährstoffreicher Sorten geschehen oder bei der Nahrungsverarbeitung. Ferner werden im Rahmen von Hilfsprogrammen Mikronährstoffe in Form von Pulver oder Tabletten verteilt, die man über das Essen streuen oder in Wasser aufgelöst trinken kann. Vor allem in Afrika erhalten untergewichtige Säuglinge und Kleinkinder häufig die kalorien- und vitalstoffreiche Erdnusspaste „Plumpy Nut“, die ihnen zu einem besseren Start ins Leben verhelfen soll.

Ein neues Geschäftfeld für die Ernährungsindustrie

Initiativen wie die Global Alliance for Improved Nutrition (GAIN)  treiben diesen Ansatz voran. Die Ernährungsindustrie sieht darin neue Absatzmärkte im globalen Süden und wittert ein gutes Geschäft – wie die französische Firma Nutriset, die das Patent auf „Plumpy Nut“ hält. Zugleich bekommen Millionen Menschen auf scheinbar einfache Weise die Nährstoffe, die sie für ein gesundes und produktives Leben brauchen. GAIN etwa arbeitet nach eigenen Angaben mit mehr als 600 Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Organisationen in fast 40 Ländern zusammen und erreicht rund 860 Millionen Kinder, Frauen und Männer.

Eine klassische Win-Win-Situation? In der akuten Not nach Naturkatastrophen oder Konflikten kann therapeutische Nahrung für Babys, Kleinkinder, stillende Mütter und Schwangere tatsächlich helfen. Doch es besteht die Gefahr, dass Regierungen so viele finanzielle und personelle Ressourcen auf solche technischen Lösungen verwenden, dass für die nötigen langfristigen Veränderungen nicht mehr viel übrig bleibt. Die Symptome werden kuriert. Doch an einer ungesunden Ernährungsweise mit zu viel Zucker und Fett, wie sie vor allem in industriell verarbeiteten Lebensmitteln stecken, wird nicht gerührt.

Zugleich werden Investitionen in eine ökologische Landwirtschaft vernachlässigt, die eine Vielfalt an nährstoffreichen Lebensmitteln produziert. Mit der sogenannten Grünen Revolution in den 1960er Jahren waren in Entwicklungsländern vor allem die Erträge gesteigert worden, während der Gehalt an Mikronährstoffen etwa in Reis oder Mais zurückging. Die Anreicherung von Nahrungsmitteln ist mit Vorsicht zu genießen – sie muss kritisch hinterfragt werden und darf höchstens Teil einer umfassenden Strategie sein, mit der jedes Land die vorherrschenden Formen von Mangelernährung in seiner Bevölkerung bekämpfen muss.

Mit der „Erklärung von Rom“ haben sich mehr als 170 Staaten bei einer Konferenz der Vereinten Nationen Ende November verpflichtet, dem Recht jedes Menschen auf den Zugang zu sichererer, gesunder und ausreichender Nahrung Geltung zu verschaffen. Sie wollen den Kampf gegen Mangelernährung anführen und das im „Dialog“ mit der Zivilgesellschaft und der Privatwirtschaft tun. Dazu würde es auch gehören, den Einfluss der Ernährungsindustrie zurückzudrängen, wenn sie die Märkte mit ungesunden Lebensmitteln überschwemmen und mit der Nahrungsanreicherung gute Geschäfte machen will – ohne Rücksicht auf schädliche Folgen. Davon ist in den 60 Konferenz-Empfehlungen, die  – auf freiwilliger Basis – in nationale Politikfelder wie Gesundheit, Bildung, Landwirtschaft und Entwicklung aufgenommen werden sollen, aber nicht die Rede. 

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