Singen für einen kühnen Traum

Die 25-jährige Musikerin ist in Tel Aviv geboren. Jetzt singt die Tochter iranischer Juden mit ihrer Band „Light in Babylon“ in Istanbul und will Menschen und Kulturen einander näher bringen. Ihr größter Wunsch wartet noch auf Erfüllung: Michal Elia Kamal will in Teheran auftreten.

Das „R“ rollt aus Michal Elia Kamals Kehle. Hüfte und Arme kreisen, ihr Kopf schwingt vor und zurück. Sogar die langen Haare tanzen mit. Dunkel klingen die Worte, die sie singt. Fast traurig. Aber voller Leben. Sie singt von Hoffnung und Sehnsucht. Das hört jeder. Obwohl nur die wenigsten Zuhörer in der Istanbuler Istiklal-Caddesi-Straße ihre Worte verstehen können. Denn Michal Elia Kamal singt auf Hebräisch. Die 25-Jährige ist in Tel Aviv geboren – als Tochter iranischer Juden. Wenn ihr Publikum das erfährt, beobachtet sie jedes Mal ein wenig amüsiert, wie es in den Köpfen von türkischen Geschäftsleuten, verschleierten Frauen oder westlichen Touristen rattert.

„Sss“, macht sie, das Geräusch elektrischer Spannung imitierend, fasst an ihren Kopf und sagt: „Ich kann richtig sehen, wie es in ihnen arbeitet. Iran – Israel, da stimmt doch was nicht, denken sie dann. Aber dann kommt ein Lächeln. Immer.“ Wie die beiden Brücken zwischen dem asiatischen und dem europäischen Teil von Istanbul will Michal Elia Kamal mit ihrer Band „Light in Babylon“ Menschen und Kulturen verbinden.

Eilig laufen die Passanten die Istiklal Caddesi entlang. Doch wenn Michal Elia Kamal zu singen beginnt, ihre Bandmitglieder anfangen, das persische Instrument Santur und Gitarre zu spielen, dann bleibt die Zeit für einen Moment stehen. „Die Menschen hören zu, sie lächeln. Manchmal weinen sie sogar“, erzählt sie. „Die Musik bringt ihre Gefühle zum Vorschein. Das ist das Licht, das wir bringen“, erklärt sie den Bandnamen „Light in Babylon“. Babylon steht für die Kulturen, die in der Gruppe vertreten sind und die der französische Gitarrist, der türkische Santur-Spieler und die iranisch-israelische Sängerin zusammenführen wollen. Michal Elia Kamal studierte Kunst und Pädagogik in Tel Aviv. Bis sie eines Tages beschloss, alles hinter sich zu lassen: Das Studium, ihren Job, ihren Freund. „Ich musste weg“, erzählt sie. Obwohl sie in Tel Aviv geboren und aufgewachsen ist, fühlte sie sich dort nie vollständig zu Hause. „Die Leute fragen mich: Woher kommst du?“, sagt Michal Elia Kamal. Sie weiß nicht, was sie darauf antworten soll. „Ich komme aus Israel. Aber schau dir mein Zuhause dort an mit den iranischen Teppichen. Schau dir nur mal mein Gesicht an“, sagt sie und zeigt auf ihre dunklen Wangen, auf ihre braunen Augen und Haare. Viele ihrer Nachbarn waren europäischer Abstammung. Überhaupt orientiert sich Israel für ihren Geschmack zu sehr an Europa und den USA, grenzt sich zu stark von seinen arabischen Nachbarn ab.

Ein Baum wächst weit entfernt seiner Herkunft, singt Kamal. Doch seine Wurzeln sprießen auch in der neuen Erde. Wenn sie auf Hebräisch ihre Sehnsüchte besingt, bleiben in der Istiklal Caddesi immer wieder Iraner stehen. Sie zeigt wieder auf ihr Gesicht: „Iraner erkennen, dass ich Iranerin bin.“ Wenn sie ihnen dann erklärt, sie sei Iranerin und Israelin, folgt dieser besondere Moment. Zögern. Ein Fragezeichen in den Gesichtern. Das Lächeln. Die Freude: „Du bist Iranerin, wir sind so stolz.“ Dasselbe geschieht, wenn israelische Passanten ihren hebräischen Gesang erkennen: „Wie wundervoll, dass du aus Israel kommst.“ In solchen Momenten fühlt sich ihre Identität vollständiger an.

Autorin

Eva Klassen

ist freie Journalistin in Lörrach.

Bereits vor der iranischen Revolution Ende der 1970er Jahre lebten ihre Eltern in Israel, flogen zwischen Teheran und Tel Aviv hin und her. Dann kam die islamische Revolution. Ihre Eltern verloren den Besitz im Iran, konnten nicht mehr in die Heimat zurück. Die guten Beziehungen zwischen Iran und Israel waren beendet. Tausende Juden flüchteten, darunter Kamals Großeltern, Onkel und Tanten. Kamal hat das Land ihrer Vorfahren noch nie betreten – doch sie fühlte sich als Israelin innerlich zerrissen. „Ich wollte meine Herkunft nicht verlieren, die ich ja noch gar nicht richtig kannte“, sagt sie. „Etwas in mir war blockiert.“

Mit ihrem israelischen Pass konnte sie nicht in den Iran reisen. Also sollten sechs Monate in Indien für innere Befreiung sorgen. Das war vor viereinhalb Jahren. Wenn Michal Elia Kamal von ihrer Reise erzählt, leuchten ihre dunklen Augen. Sie führt Daumen und Finger zusammen und öffnet die Hand kraftvoll. „Plopp“, macht sie, „es war wie bei einer Flasche Champagner. Etwas hatte meine Kehle verschlossen und in Indien hat sie sich geöffnet.“ Zum ersten Mal traf sie Iraner ihrer Generation. „Ich habe mich ihnen so nahe gefühlt. Wie bei einer Familie“, schwärmt sie. Die kleine Frau mit der hellen Stimme begann zu singen. Dunkel, laut, kraftvoll.

Sie konnte nicht mehr aufhören. Weder mit der Musik noch mit der Reise. Als sie nach sechs Monaten in Indien nicht wie vereinbart nach Israel zurückkehrte, sondern durch Thailand und Europa reiste, ermahnten ihre Eltern sie immer wieder: „Du brauchst ein Ziel im Leben. Reisen ist kein Ziel.“ Doch jetzt hat sie eins gefunden: Die Musik, die ihre Geschichte erzählt und Menschen zusammenführen soll. Nicht unbedingt ein Ziel, das sich ihre Eltern gewünscht hatten. Auch keines, mit dem sie selbst gerechnet hätte. Ein Besuch in Istanbul noch und dann geht es zurück, dachte sie noch vor drei Jahren, kurz vor dem Ende ihrer Reise. „Aber ich konnte nicht weg aus Istanbul“, sagt sie.

In der Türkei gebe es einen ähnlichen Konflikt zwischen Tradition und Moderne, zwischen Ost und West wie in Israel, beschreibt Kamal. Hier erlebt sie Familien, die sie an ihre eigene erinnern. Aber sie lernt auch junge Iraner kennen und Musiker, die ihren Traum teilen, Brücken zwischen den Kulturen zu bauen. Hier kommt sie ihrem iranischen Ich so nah, wie es für eine Israelin möglich ist.

„Light in Babylon“ leben von der Straßenmusik und von Konzerten. Im vergangenen Jahr ist die Band sogar in Deutschland aufgetreten: In Lörrach, Freiburg, Leipzig und Wuppertal. Auch ein Debütalbum hat die Gruppe bereits: „Life sometimes doesn‘t give you space.“ Derzeit arbeiten die Musiker in einem Musikstudio in Istanbul an ihrem ersten professionell aufgenommenen Album.

Doch Michal Elia Kamals größter Traum wartet noch auf Erfüllung: Sie will in Teheran singen. Im Iran, wohin sie als Israelin nicht einmal reisen darf. Für die junge Frau ist es aber nicht nur eine Hoffnung, dass Frieden zwischen Iran und Israel herrschen wird. Es ist eine Gewissheit. „Es wird einer der glücklichsten Momente meines Lebens sein“, sagt sie. Ihre Zuversicht, dass auch verfeindete Völker zueinander finden können, wurde in Istanbul geboren. Bei Begegnungen wie dieser: „Eine Frau kam zu mir. Sie sagte, die Musik berühre ihr Herz. Sie fragte mich, in welcher Sprache ich singe“, erzählt sie.

Die Frau war bitter enttäuscht, als Kamal antwortete, dass sie auf Hebräisch singe. „Ich komme aus Palästina“, sagte die Frau zornig. Michal Elia Kamal griff die Hand der Palästinenserin und sagte: „Es spielt keine Rolle. Nicht alle Menschen sind gleich. Wir sind Schwestern.“ Die Frau zögerte und antwortete endlich: „Du hast recht.“ Und sie lächelte. Michal Elia Kamal hat ihr Ziel gefunden: „Es geht gar nicht mehr um die Musik“, sagt sie. „Es geht um Menschlichkeit. Die Musik ist nur das Werkzeug.“

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erschienen in Ausgabe 3 / 2013: Neue Geber: Konkurrenz stört das Geschäft
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