Der Abhängigkeit entkommen

Viele Länder sind auf Entwicklungszusammenarbeit angewiesen, sie darf aber nicht zum Selbstzweck werden. Doch die Geberländer haben kein Konzept, wie sie ihre Partner, bei denen das möglich ist, in die entwicklungspolitische Unabhängigkeit entlassen können. Gebraucht wird eine Exitstrategie: Klar vereinbarte Ziele, zehn Jahre noch einmal richtig viel Geld und dann die Hilfe einstellen.

Die entwicklungspolitische Diskussion fokussiert sich momentan noch auf das Jahr 2015. Dann sollen möglichst alle acht Millenniumentwicklungsziele und das Versprechen der Industrienationen erfüllt sein, 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen. Die Ziele sind richtig. Aber unabhängig davon, ob sie in den kommenden vier Jahren erreicht werden, müssen wir uns die Frage stellen: Was kommt nach 2015?

Autor

Sascha Raabe

ist Mitglied des Bundestags und entwicklungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.

Die Überwindung von Hunger und extremer Armut weltweit bis 2030 sollte das Hauptziel aller politisch Verantwortlichen in Industrie- und Entwicklungsländern sein. Wir dürfen uns an Hunger und Armut als Dauerzustand ebenso wenig gewöhnen wie an immerwährende Entwicklungszusammenarbeit. Entwicklungszusammenarbeit ist kein Selbstzweck, sondern sollte sich durch Erreichung ihrer Ziele überflüssig machen.

Schwellenländer wie China und Indien, in denen die meisten extrem armen Menschen leben, dürften angesichts ihres großen Wirtschaftswachstums und Reichtums – der freilich extrem ungleich verteilt ist – eigentlich schon heute keine hungernden Menschen mehr haben. Sie müssen künftig viel stärker für die Bekämpfung der Armut in die Pflicht genommen werden. Der andere Teil der extrem Armen lebt oftmals in Ländern, in denen bei besserer Regierungsführung und mehr sozialer Verantwortung der Eliten zwar auch deutlich weniger Menschen hungern müssten. Allerdings würden diese Länder es trotz bester Bemühungen nicht schaffen, ohne Entwicklungszusammenarbeit auf die Beine zu kommen. In diesen Ländern, insbesondere in Afrika südlich der Sahara, liegt die eigentliche entwicklungspolitische Herausforderung. Sie brauchen unsere Unterstützung, aber sie brauchen auch Perspektiven.

Viele Geberländer, einschließlich Deutschland, haben keine Strategien, wann sie die Entwicklungspartnerschaft mit einem Land beenden wollen. In den Regierungsverhandlungen geht es meist nur um den Zeitraum der nächsten drei Jahre. Faktisch richtet sich die Höhe der Zusagen oft danach, wie hoch die Mittel in den drei Jahren davor waren – ein paar Prozent werden dann draufgelegt oder gekürzt. Die entscheidenden Fragen werden nie gestellt: Wie lange sollen wir gemeinsam mit anderen Gebern im Land bleiben? Wann wollen wir den Partnerländern die Verantwortung übergeben?

Das Fehlen solcher Exitstrategien erschwert es nicht nur, die Entwicklungsziele zu erreichen, sondern setzt auch ein falsches Signal an die Partnerländer. Bezeichnend ist hierfür die Äußerung eines afrikanischen Finanzministers während der Konferenz über wirksame Entwicklungshilfe 2008 in Accra. Auf die Frage, ob er sich angesichts der durchaus erfolgreichen Entwicklung seines Landes vorstellen könne, eines Tages auf die Unterstützung der Geber zu verzichten, antwortete er ehrlich: „Solange ich Finanzminister bin, werde ich doch einen Wasserhahn, aus dem das Geld fließt, nicht zudrehen.“ Das ist aus seiner Sicht nachvollziehbar, aus entwicklungspolitischer Sicht aber eine Bankrotterklärung.

Deshalb wäre es einen Versuch wert, wenn die Geberländer gemeinsam mit Entwicklungsländern, die über eine relativ gute Regierungsführung verfügen und nicht zur Gruppe der ärmsten Länder gehören, eine Vereinbarung abschließen, die folgendes Grundprinzip hat: In den nächsten zehn Jahren gibt es jährlich ein Vielfaches der bisherigen Entwicklungsmittel, dafür aber nach zehn Jahren gar nichts mehr. Ziel ist es, den Partnerländern nach einem gemeinsam vereinbarten Ausstiegsplan zu einem fixiertem Enddatum die Verantwortung zu übertragen. Die Mittel würden jährlich nur dann ausgezahlt, wenn vorher vereinbarte nachprüfbare Erfolgsindikatoren erreicht werden.

Das erinnert an ergebnisorientierte Ansätze wie „Cash on Delivery“. Doch im Unterschied zu diesen und zur bisherigen Budgethilfe bezieht sich die umfassende Exitstrategie nicht nur auf Teilbereiche, sondern auf die Entwicklung des gesamten Landes. Die Indikatoren müssen deshalb umfassend sein: Die klassischen Entwicklungsziele, etwa Bildung, Gesundheit und soziale Sicherung, werden eine Säule bilden, aber allein nicht ausreichen. Es müssen zugleich die eigenen Einnahmen durch den Aufbau gerechter Steuersysteme und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung gesteigert werden und funktionierende rechtsstaatliche Strukturen geschaffen werden. Sobald sämtliche Zielmarken erreicht sind, muss das Land ohne weitere Hilfe von außen auf eigenen Beinen stehen können.

Genau das sollte für die Regierung des Partnerlandes die große Motivation sein, für die Erreichung der vereinbarten Ziele zu kämpfen, denn das Herausführen des eigenen Landes aus Armut und Abhängigkeit wäre sicherlich eine historisch zu würdigende Leistung. Das Wissen um ein Enddatum internationaler Hilfe erhöht zudem den Druck auf die Eliten, sich stärker als bisher an der Lösung sozialer Probleme zu beteiligen.

Für die Geberländer bedeutet der Prozess den Abschied vom nationalen Fähnchendenken mit eigenen, bilateralen Projekten. Die Eigenverantwortung der Partnerländer kann vor allem mittels einer multilateral abgestimmten Budgethilfe gestärkt werden. Die demokratisch gewählten Volksvertreter der Partnerländer müssen unterstützt werden und entscheiden, wie sie die angestrebten Ziele erreichen. Das ist selbstverständlich kein Freibrief, da eine an den Zielen orientierte Politik der entscheidende Maßstab für die jährliche Mittelbewilligung bleiben wird. Dazu gehört auch der Mut, dass die Geber aus der vereinbarten Exitstrategie aussteigen, falls die Indikatoren nicht erfüllt werden.

Natürlich ist eine solche Exitstrategie kein Allheilmittel, das andere entwicklungspolitische Ansätze, wie die globale Strukturpolitik einschließlich fairen Welthandelsbedingungen, überflüssig machen würde. Ohnehin ist die Zahl der Länder begrenzt, die dafür in Frage kommen. Sie müssen einen gewissen Entwicklungsstand erreicht haben, den erhöhten Mittelzufluss verarbeiten können und wirksame Mechanismen zur Korruptionsbekämpfung vorweisen. Grundlegend sind der Wille zu guter Regierungsführung und eine Einbindung der Eliten. Aber Exitstrategien mit ausgewählten Ländern sind ein Ansatz, über den es nachzudenken lohnt. Progressive Entwicklungspolitik muss offen sein für neue Ideen.

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erschienen in Ausgabe 7 / 2011: Entwicklungsdienst: Wer hilft wem?
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