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Gekämpft wird bis heute. Denn nur ein starkes Armeeaufgebot kann die rund 800 ultraorthodoxen jüdischen Siedler schützen, die sich seit 1967 in der historischen Altstadt niedergelassen haben, umgeben von insgesamt 180.000 Palästinensern. Eine Atmosphäre aus Angst, Hass und Repression hat das einst lebendige Hebron zur Geisterstadt werden lassen, mit versiegelten Wohnhäusern, verrostenden Scharnieren an den Basartüren und herabhängenden Kabeln. Seit 2000 wurden etwa 1800 Geschäfte geschlossen, mehr als tausend Familien sind aus der Innenstadt geflohen.
Yehuda Shaul hat sich selbst das Reden verordnet. Er will öffentlich machen, was er und seine Leute im Namen der Sicherheit getan haben, in Hebron und anderswo im Westjordanland, das seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 offiziell von Israel besetztes Gebiet ist, in dem besondere Gesetze gelten. Und Menschenrechte oft wenig zählen. Er ist nach Hebron zurückgekehrt, weil die Stadt einen Wendepunkt in seinem Leben markiert: den Zusammenbruch seines Glaubens an Recht und Gerechtigkeit im Staat Israel.
Gemeinsam mit anderen jungen Soldatinnen und Soldaten hat Yehuda Shaul kurz nach seinem Wehrdienst 2004 die Organisation „Breaking the Silence“ (Das Schweigen brechen) gegründet. Sie wollten ihre traumatischen Erlebnisse verarbeiten und zugleich die israelische Öffentlichkeit über die Realität in den besetzten Gebieten aufklären; über alltägliche Gewalt, Schikanen und Militäraktionen gegen die palästinensische Bevölkerung. Sie sammeln Berichte, organisieren Aufsehen erregende Ausstellungen und Führungen vor Ort wie die im antiken Hebron, das mit seinen Gräbern der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob bei Juden, Muslimen und Christen als heilig gilt.
Die Stimme von Yehuda Shaul ist Respekt gebietend, sein Blick hält auf Distanz, wenn da nicht diese langen Pausen wären, die ihn in seine eigenen inneren Abgründe zu ziehen scheinen. Dann erzählt er weiter wie aus der Pistole geschossen: „Ich habe alles gemacht, was man als Soldat so macht. Nacht für Nacht – Patrouille! Donner gegen ihre Tür, weck die Leute, mitten in der Nacht, rein ins Haus, Männer auf die eine Seite, Frauen auf die andere! Durchwühl alles, mach viel Krach, schieß herum. Lass sie deine Präsenz spüren, dann werden sie nicht angreifen. 24 Stunden, 7 Tage die Woche, schüchtere sie ein, wo immer es geht. Das hat sich nicht geändert!“
Auf der knapp einstündigen Fahrt von Jerusalem nach Hebron hat Yehuda bereits vom „Austrocknenlassen“ erzählt, einer beliebte Methode bei der Truppe, aufmüpfige Palästinenser ein wenig zu schikanieren: Hände fesseln, Augen verbinden, ab in die pralle Sonne, zwei Stunden, vier Stunden, sechs Stunden – je nachdem. Für Folter hielten er und seine Männer das damals nicht. Diese Erkenntnis kam vielen erst später, als sie sich die selbst geschossenen Fotos von den Opfern anschauten.
Wenn Yehuda Shaul heute durch Hebron geht, wird er gegrüßt und auf einen Tee eingeladen. Zum Beispiel bei einem der wenigen verbliebenen palästinensischen Händler direkt am Eingang zur Grabstätte der Erzväter. Auch wenn beiden Seiten bewusst ist, wie sehr die Vergangenheit der Stadt die Gegenwart belastet. Etwa das Massaker von 1929, bei dem militante Araber 67 Juden in Hebron töteten. Die gesamte jüdische Gemeinde floh daraufhin nach Jerusalem. 1994 wiederum erschoss der extremistische Siedler Baruch Goldstein mit einem Sturmgewehr 29 betende Muslime in einer Moschee.
„Ich habe keinen Zweifel daran, dass das, was heute in Hebron geschieht, eine Schande für meine israelische Flagge und für meinen Gott ist“, meint Yehuda Shaul. Nach wie vor bezeichnet er sich als orthodoxen Juden und als Zionisten, seine Schwester lebt in einer Siedlung nahe Bethlehem. „Wenn es einen Ort in Israel gibt, an dem wir das Recht haben zu leben, dann ist es hier in Hebron“, fügt er hinzu. Yehuda Shaul fragt aber auch, was es eigentlich heißt, ein orthodoxer Jude in einer modernen säkularen demokratischen Gesellschaft im Jahr 2011 zu sein – ohne daran politische Forderungen zu knüpfen. Das ist nicht sein Ding. Aber die alternativen Stadtführungen zu Fuß durch die Altstadt sind es – ein gut zweistündiges politisches Statement. „Hier in Hebron kannst du sehen, wie unmenschlich die Besatzung ist, hier tritt alles ganz offen zu Tage“, meint er mit einem Blick in die verödeten Gassen der Innenstadt.
Aus Scham über die Siedler hat er während der Militärzeit die Kippah der orthodoxen Juden abgelegt. Mittlerweile trägt er sie wieder mit Stolz, auch wenn sie an diesem heißen Sommertag zeitweise von seinem Strohhut verdeckt wird. Dann ist sie unsichtbar für diejenigen, die jetzt in grüner Uniform mit Maschinengewehr im Anschlag an den vielen Checkpoints entlang der Straße stehen – so wie er selbst früher. Unsichtbar auch für die Siedler in ihren akkurat renovierten Häusern an der ehemals wichtigsten Einkaufsstraße Shuhada-Straße, die heute verlassen da liegt. Aber sowohl Siedler als auch Soldaten kennen den bärtigen, entschlossenen Mann, der seit Jahren mit Besuchern unterwegs ist. Siedler haben schon Steine und Eier auf ihn geworfen, Soldaten haben versucht, die Touren zu unterbinden. Aber er kommt wieder, ebenso wie die andere Touristenführer von „Breaking the Silence“.
Nur in wenigen Häusern der Altstadt wohnen noch Palästinenser. Die Fenster und Balkone, hinter denen trocknende Wäsche und neugierige Kinderaugen zu sehen sind, gleichen Käfigen. Es sind selbst gebaute Gefängnisse, zum Schutz vor Steine werfenden Siedlern und ihren Kindern. Die Soldaten sind für die Siedler da, nicht für die palästinensischen Familien. Übergriffe sind an der Tagesordnung. Deshalb begleiten internationale Freiwillige des Ökumenischen Friedensdienstes in Palästina und Israel (ÖFPI) palästinensische Kinder auf ihrem Schulweg vorbei an den Siedlerhäusern und Checkpoints der Shuhada-Straße. Nach schweren Auseinandersetzungen mit mehr als 30 Verletzten, brennenden Moscheen und Häusern im Dezember 2008 sprach sogar der damalige israelische Ministerpräsident Ehud Olmert von einem „Pogrom“. Er schäme sich dafür, dass jüdische Siedler in Hebron „auf unschuldige Araber“ geschossen hätten. Damit meinte er nicht nur die 800, die in der Altstadt leben, sondern auch die beteiligten Hardliner aus der angrenzenden Siedlung Kiryat Arba.
Seitdem hat sich wenig verändert in Hebron, auch wenn die militärische Strategie, Araber und Israelis voneinander zu trennen, das Leben in der ehemals quirligen Altstadt mit ihren Märkten und Kaffeehäusern ausgelöscht hat. Der Grund dafür sind „sterile Pufferzonen“ und viele Gassen und Nebenstraßen, die mit meterhohen Betonpfeilern blockiert wurden, obenauf Stacheldraht, beliebte Flächen für Graffitimalerei, die wie Farbtupfer ein wenig Leben in die Tristesse bringt. Die Shuhada-Straße etwa ist laut Armeejargon zur „sterilen Straße“ geworden, auf der mehr Soldaten als Zivilisten unterwegs sind.
Palästinenser dürfen sie bis auf einige kurze Abschnitte auf extra markierten schmalen Pfaden nicht betreten. Die Haustüren sind versiegelt. Nur wenige Familien sind geblieben, die ihre Häuser wie Diebe über Leitern und Dächer von der Rückseite aus erklettern müssen. Auch der große Platz vor den historischen Gräbern der Propheten Abraham, Isaak und Jakob, an dem die Touristenbusse ankommen, ist Israelis vorbehalten. „Free Palestine“ steht dort an der himmelblauen Tür der Damentoilette – die Putzfrauen müssen es übersehen haben.
Am anderen Ende der Shuhada-Straße treffen wir den palästinensischen Menschenrechtsaktivisten Issar Amar, der verschiedene Jugendprojekte gegründet hat, unter anderem ein Video-Projekt, bei dem mit WebCams Übergriffe dokumentiert werden. „Ich habe beim Bürgermeister den Antrag gestellt, dass die Shuhada-Straße in Apartheid-Straße umbenannt wird. Demnächst werden hier Schilder aufgehängt in Arabisch, Hebräisch und Englisch: Welcome to Apartheid Street!“ erzählt der 31-jährige Elektroingenieur.
In diesem Teil der Stadt, jenseits eines schwer bewachten Checkpoints mit Metalldetektor und Drehkreuzen, sind nur Palästinenser erlaubt, aus Sicherheitsgründen werden die beiden Bevölkerungsgruppen getrennt. Yehuda, der Israeli, muss draußen bleiben. Deshalb hat er die Stadtführung an seinen Freund Issar übergeben. Hier endlich ist ein wenig vom arabischen Basarleben zu spüren: Schaufensterpuppen stehen neben kunstvoll drapierten Gemüsebergen, der Friseur arbeitet neben einem duftenden Gewürzladen und gegenüber dröhnt laute Musik aus dem Videoshop. Sogar ein Internetcafé ist da, in dem Jugendliche ihre Kampfspiele machen, so wie überall auf der Welt, obwohl Gewehre für sie bedrohlicher Alltag sind.
Erst ein Blick nach oben zeigt, dass auch hier kein Frieden herrscht. Die schmale Geschäftsstraße ist komplett mit einem dichten Drahtgestell geschützt, ähnlich wie die Balkone und Fenster der Palästinenserhäuser auf der anderen Seite. Es liegt voll mit dicken Pflastersteinen, Flaschen und Bergen von Müll. „Alles Wurfgeschosse der Siedler, die oben die Häuser besetzt haben. Sogar Säure haben sie schon runter geschüttet“, berichtet Issar Amar. Immer mehr verlassene palästinensische Häuser würden von den Siedlern besetzt, das sei illegal, auch nach israelischem Recht. „Aber keiner tut was dagegen, obwohl sie einfach konfisziert werden.“ Issar ist wütend und trotzdem versucht er, mit friedlichen Mitteln etwas zu verändern. Etwa indem er einen Teil der Tour für „Breaking the Silence“ übernimmt, nur ein Israeli und ein Araber zusammen können beide Seiten der Stadt erklären.
„Israels extreme Separationspolitik übersteigt bei weitem das, was für die Sicherheit wirklich notwendig wäre“, heißt es bei der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem in Jerusalem, für die Issar Amar früher gearbeitet hat. Über Jahre hat er Freundschaften mit Israelis aufgebaut. Mit Yehuda Shaul verbindet ihn die Liebe zur Religion, zum Islam und zum Judentum, aus der beide ihre Motivation beziehen. „Ich habe nichts gegen jüdische Nachbarn, sie können in einem palästinensischen Staat leben, aber Hebron ist Palästina und nicht Israel“, meint Issar selbstbewusst und hat dabei vermutlich Nachbarn wie Yehuda im Blick. Ein orthodoxer Jude, der auf dem Rückweg nach Jerusalem Sätze sagt wie diesen: „Ich bin nicht länger bereit ein Konzept zu akzeptieren, das mir sagt: Ich kann nur frei sein, wenn die Palästinenser unfrei sind. Das ist Sünde. Das ist zutiefst unmoralisch.“ Und so geht er immer wieder zurück in die Geisterstadt Hebron. In der Hoffnung, dass sie eines Tages wieder zum Leben erwacht.
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