Am 23. September rückte der Konflikt im Nahen Osten schlagartig wieder in das Zentrum der internationalen, regionalen und nationalen Aufmerksamkeit. An diesem Tag beantragte Präsident Mahmud Abbas vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen, Palästina als eigenen Staat international anzuerkennen – obwohl die Amerikaner und Europäer ihn dringend daran zu hindern versuchten. Israel reagierte wie erwartet ablehnend auf die Vorstellung, die Unabhängigkeit Palästinas könne weiteren Friedensverhandlungen vorausgehen.
Autorin
Tamar Hermann
ist Professorin an der Fakultät für Soziologie, Politikwissenschaft und Kommunikation der Open University in Tel Aviv und Mitarbeiterin am Israel Democracy InstituteDas wieder erwachte Interesse am Nahostkonflikt folgte auf eine längere Zeit, in der andere Probleme wie die globale Finanzkrise, die verheerenden Auswirkungen des Tsunami in Japan und der „arabische Frühling“ die Welt in Atem gehalten und den Nahostkonflikt in den Schatten gestellt hatten. Während der Konflikt bei den Palästinensern angesichts der bitteren Realität der Besatzung stets präsent bleibt, wurde er in der Politik und im öffentlichen Bewusstsein Israels in den vergangenen beiden Jahren eher in den Hintergrund gedrängt. In den Meinungsumfragen, bei denen die Befragten aus einer Liste jene Themen auswählen sollten, mit denen sich die Regierung ihrer Meinung nach vorrangig befassen sollte, rangierte der Friedensprozess nur noch an vierter oder fünfter Stelle. Dagegen sind andere, überwiegend innenpolitische Themen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt.
Dazu zählt etwa pfl ichtwidriges Verhalten und Korruption an der Spitze von Politik und Verwaltung wie die Anklage wegen sexueller Übergriffe gegen den früheren Staatspräsidenten Moshe Katsav und die Korruptionsvorwürfe gegen den ehemaligen Ministerpräsidenten Ehud Olmert und Ex-Finanzminister Abraham Hirschson. Hinzu kommen die zunehmende Kriminalität und die steigende Bedrohung der persönlichen Sicherheit, die wachsende soziale und wirtschaftliche Ungleichheit, die Wohnungsnot
und das schnell schwindende Vertrauen der Bevölkerung in das politische System. Der palästinensisch-israelische Konflikt ist vor allem deshalb weitgehend aus dem öffentlichen Blickfeld verschwunden, weil die Palästinenser in den vergangenen Jahren ihre terroristischen Angriff e deutlich reduziert haben. Dies geht auf die Anti-Terror-Maßnahmen der israelischen Sicherheitskräfte zurück sowie auf die Entscheidung der Palästinensischen Autonomiebehörde, sich auf den nationalen Aufbau statt auf den bewaffneten Kampf zu konzentrieren. Aus Meinungsumfragen lässt sich schließen, dass die israelischen Juden aufgrund ihres tiefen Misstrauens gegenüber der „anderen Seite“ dazu neigen, den ersten Grund für wichtiger zu halten als den zweiten.
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Ein weiterer Grund für den Bedeutungsverlust des Konflikts war der Wirtschaftsboom der beiden vergangenen Jahre. Er hat den Lebensstandard vieler Israelis verbessert und eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben möglich gemacht. Dem Durchschnittsbürger in Israel kam es deshalb so vor, als hätte der andauernde Konflikt keine schädlichen wirtschaftlichen Folgen. Wie in vielen westlichen Demokratien hat sich die israelische Gesellschaft zunehmend aufgrund der verbesserten Lebensbedingungen und der Konsumorientierung individualisiert. Ihre ursprüngliche ideologische Basis hingegen wurde geschwächt. In der Vergangenheit bestimmten Auseinandersetzungen die öffentliche Diskussion, welche Art von Staat und Gesellschaft in Israel angestrebt werden sollte. Nun scheinen diese Themen fast keine Rolle mehr zu spielen. Aber nicht alle Israelis haben vom Wachstum der Gesamtwirtschaft profi tiert. Viele jüdische Familien der Mittelschicht sind durch den Preisanstieg bei Immobilien, Elektrizität, Gas und Lebensmitteln vom wirtschaftlichen Abstieg bedroht. Das hat dazu geführt, dass sich die Schere zwischen den Reichsten und der Mittelschicht sehr weit geöff net hat. Israel, das früher das egalitärste Land unter den westlichen Demokratien war, wird jetzt bei der sozialen Ungleichheit nur noch von den USA übertroffen.
Zugleich ist das Interesse an den ehemals leidenschaftlich ausgetragenen Debatten über die Ursachen, die Entwicklung und die Auswirkungen des Nahostkonflikts geschwunden. Da die Bemühungen um die Wiederaufnahme der Friedensgespräche immer wieder gescheitert sind und weil die kollektive Psyche der israelischen Bevölkerung von der Vorstellung geprägt ist, dass es für Verhandlungen keinen Partner gebe, sind die meisten israelischen Juden zu der Überzeugung gekommen, der Status quo könne in alle Ewigkeit fortbestehen. Deshalb gab es darüber zuletzt auch nicht mehr viel zu diskutieren.
Weil sich die Nation für die israelisch-palästinensischen Beziehungen immer weniger interessiert, hat auch der klassische Gegensatz zwischen den Linken und den Rechten, der die israelische Politik seit 1967 bestimmt hatte, viel von seiner Bedeutung eingebüßt. Im Unterschied zu Europa, wo die Rechts-Links-Spaltung im Wesentlichen wirtschaftspolitisch begründet ist, beziehen sich in Israel die Vorstellungen von rechts und links hauptsächlich auf die Außenbeziehungen des Staates zur arabischen Welt im Ganzen und zu den Palästinensern im Besonderen. Die israelische Linke hat stets an einen möglichen Frieden geglaubt und war zu territorialen und anderen Zugeständnissen bereit. Die Rechten dagegen waren davon überzeugt, dass der Hass der Araber beziehungsweise der Palästinenser auf Israel unausrottbar und ein Frieden, so wünschenswert er auch sein mochte, unrealisierbar sei. Zugeständnisse gefährdeten somit nur Israels Sicherheit.
Diese ursprünglich gegensätzlichen Weltbilder haben in den vergangenen Jahren viel von ihrer Prägnanz eingebüßt. Die häufige Behauptung, die israelischen Juden seien nach rechts gerückt, muss deshalb mit einem Fragezeichen versehen werden. Zwar liegen die rechten Parteien bei Wahlen an der Spitze, während die Parteien der Linken nach und nach an Boden verlieren. Außerdem ist die Reichweite der beiden politischen Lager heute ganz verschieden groß: Nur 17 bis 20 Prozent der israelischen Juden bezeichnen sich als Linke, etwa 40 Prozent als Rechte, und der Rest siedelt sich in der Mitte an. Doch solche Zahlen täuschen darüber hinweg, dass sich die Grenze zwischen den Rechten und den Linken verwischt haben. Und sie geben auch keine Auskunft darüber, warum und in welcher Hinsicht das so ist. Eine Antwort darauf lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen finden.
Bei den politischen Parteien vertreten die drei wichtigsten, Likud, Kadima und die Arbeitspartei, ziemlich ähnliche Vorstellungen von der Zukunft der palästinensisch-israelischen Beziehungen. Im Mittelpunkt steht dabei das Konzept der „zwei Staaten für zwei Völker“, wobei die Hoffnung auf etwas Besseres als einen „kalten Frieden“ äußerst gering ist. Auch der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, früher ein Gegner der Zwei-Staaten-Lösung, propagierte sie Mitte Juni 2009 in einer Rede an der Bar-Ilan-Universität ausdrücklich. Doch ist er weit davon entfernt, den tieferen Absichten der Palästinenser in Bezug auf Israel zu vertrauen, was auch seiner jüngsten Rede vor den Vereinten Nationen zu entnehmen war. Deshalb hält er stets an sehr breiten Sicherheitsabständen fest. Ehud Barak, der israelische Verteidigungsminister und frühere Vorsitzende der in der linken Mitte angesiedelten Arbeitspartei, hat Israel oft als eine „Villa im Dschungel“ beschrieben, womit er Hoffnungen auf eine friedliche Koexistenz zwischen Israel und seinen Nachbarn eher eine Absage erteilte.
Tzipi Livni, die Vorsitzende von Kadima, die früher zu den Hardlinern der Rechten gehörte, schwankt zwischen zwei Positionen: Einerseits setzt sie sich seit einiger Zeit für einen politischen Frieden auf der Basis der Zwei-Staaten-Lösung ein und akzeptiert die territorialen Zugeständnisse, die dafür notwendig sind. Andererseits ist sie zutiefst davon überzeugt, dass das Land Israel den Kindern Israels von Gott versprochen wurde und dass es deshalb ihr rechtmäßiger Besitz ist, auch wenn es heute notwendig sein sollte, Teile des Landes als Gegenleistung für einen Friedensvertrag abzutreten. Außerdem sind sich alle drei Parteiführer ebenso wie eine absolute Mehrheit der israelischen Juden darin einig, dass die Palästinenser Israel als einen Staat des jüdischen Volkes anerkennen müssen, bevor ein Friedensvertrag unterzeichnet werden kann. Dass sie dies verweigern, wird in Israel allgemein als Zeichen dafür gesehen, dass sie sich mit dem Existenzrecht Israels nicht abfinden wollen. Zwar werden in Israel auf dem äußersten rechten Flügel des politischen Spektrums ebenso wie auf dem äußersten linken diametral entgegengesetzte Auffassungen zu diesem Thema vertreten. Innerhalb des „Mainstream“ der israelischen Juden bestehen aber heute kaum noch ernsthafte Unterschiede. Diese „ideologische Indifferenz“ spiegelt sich deutlich in den Ergebnissen verschiedener Meinungsumfragen, die in den vergangenen Jahren unter der Schirmherrschaft der Universität von Tel Aviv und des Israel Democracy Institute durchgeführt worden sind.
In den vergangenen zehn Jahren ergab jeder der monatlichen Peace Index Polls, dass eine breite Mehrheit von etwa zwei Drittel der Befragten Friedensverhandlungen zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde befürwortete – und das unabhängig davon, ob sie gerade stattfanden oder ausgesetzt waren. Dennoch glaubte nach denselben Umfragen nur eine Minderheit von zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent, dass diese Verhandlungen in absehbarer Zukunft Erfolg haben und ein Friedensabkommen zustande bringen würden. Aufgrund ihrer breiten und konstanten Zustimmung zu den Friedensverhandlungen sieht es so aus, als ob die meisten israelischen Juden „links“ stünden, doch da sie den zu erwartenden Ergebnissen skeptisch gegenüberstehen, sind sie gleichzeitig auch „rechts“ zu verorten.
Und wie sieht es bei den jüdischen Siedlungen im Westjordanland aus, an denen sich früher die Meinungen der Linken und der Rechten schieden? In dieser Frage scheinen die meisten israelischen Juden heute eine mittlere Position zu vertreten. Eine vor ein paar Jahren durchgeführte Erhebung für den Peace Index zeigte, dass die Mehrheit der Befragten die Siedlungen eher als Belastung denn als Vorteil für die israelische Sicherheit sahen und damit eine eher „linke“ Position einnahmen. Laut anderen Umfragen allerdings lehnten etwa 70 Prozent der Befragten die Aussage ab, Israel solle sich als Gegenleistungen für einen wirklichen Frieden zur Räumung aller Siedlungen im Westjordanland verpflichten.
Zugleich befürwortete eine breite Mehrheit die Räumung der kleineren und isolierteren Siedlungen im Rahmen eines dauerhaften Friedens.
Die Verwischung des Rechts-Links-Gegensatzes drückt sich auch in den Reaktionen der israelischen Juden auf den palästinensischen Vorstoß in den Vereinten Nationen aus. Wie fast alle israelischen Politiker lehnt eine deutliche Mehrheit der israelischen Juden ihn ab, hauptsächlich weil die Palästinenser einseitig vorgegangen sind. Etwa in der Mitte gespalten war die Öffentlichkeit jedoch in der Frage, ob es sich Israel leisten kann – falls die Palästinenser mit ihrem Vorstoß erfolgreich wären –, die Unabhängigkeit Palästinas nicht anzuerkennen, ohne an internationalem Ansehen zu verlieren. Das heißt, eine große Zahl der Befragten, die sich selbst der Rechten zuordnen, ist dennoch der Meinung, dass Israel einen unabhängigen Palästinenserstaat anerkennen müsste.
Einen überraschenden Hinweis auf einen starken Linksruck könnte man in den Ergebnissen einer Umfrage vom August sehen. Sie stand im Zusammenhang mit den zahlreichen Protestaktionen des Sommers, in denen sich die Entrüstung der Mittelschichten über den Anstieg der Immobilienpreise und der Lebenshaltungskosten artikulierte. 72 Prozent der Befragten, die dafür waren, die staatlichen Ressourcen für mehr wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit und bessere Sozialleistungen umzuverteilen, befürworteten zugleich erhebliche Kürzungen der Mittel, die ursprünglich für die jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten bestimmt waren.
Laut Umfragen haben sich auch die Ansichten über die Verteidigung erheblich gewandelt. Viele Jahre lang waren die Verteidigungsausgaben in Israel über jede öffentliche Kritik erhaben. Laut der herrschenden Meinung garantierte eine starke und gut ausgerüstete Armee die Existenz und die Sicherheit des Staates. Nur die extreme Linke hinterfragte öffentlich den Umfang der Mittel für die Verteidigung im Vergleich zu den Ausgaben für Sozialhilfe, Bildung und Gesundheit. Doch offenbar ist die Verteidigung für den israelischen Durchschnittsbürger bei weitem nicht mehr so sakrosankt wie früher. So waren in der erwähnten Umfrage vom Sommer dieses Jahres 52 Prozent dafür, Geld aus dem Verteidigungshaushalt für den Abbau wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit zu verwenden.
Geographische Landschaften verändern sich nur sehr langsam, politische hingegen manchmal sehr schnell, so dass Beobachter ihnen oft mit überholten Begriffen gegenüberstehen. Viele Jahre lang konnte man die politische Lage in Israel zutreffend mit dem Rechts-Links-Gegensatz charakterisieren, doch heute scheint diese Einteilung fast gänzlich überholt zu sein. Die Linke hat ihren politischen Rückhalt und ihr Vertrauen auf einen möglichen Frieden weitgehend verloren. Zugleich ist bei den Rechten die Hoffnung auf das ersehnte Groß-Israel und die Zuversicht geschrumpft, militärische Überlegenheit könne eine hinreichende Garantie für die künftige Existenz Israels bilden.
So sind die beiden Lager näher zueinander gerückt, und die Israelis haben nicht mehr die Wahl zwischen schwarz und weiß, sondern nur noch zwischen Grautönen. Es bleibt die Frage, ob diese neue, weniger fraktionierte politische Landschaft stabil genug ist, die Schockwellen der Geburt eines Palästinenserstaates zu absorbieren oder ob sich nun die gleichen tiefen und bedrohlichen Brüche wieder auftun werden wie in den 1990er Jahren nach dem Einstieg in den Oslo-Friedensprozess, der die Ermordung des Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin zur Folge hatte.
Aus dem Englischen von Anna Latz.
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