Regierung ohne Macht

Die größte Gemeinde von Exiltibetern lebt in Indien. Dort residiert auch ihre demokratisch gewählte Regierung – die allerdings nirgends auf der Welt anerkannt ist. Sie kämpft einen offenbar aussichtslosen Kampf, um für das von China besetzte Tibet die Autonomie zu erreichen. Weil Erfolge ausbleiben, macht sich Unmut breit.

Das indische Dharamsala in den Südausläufern des Himalaya ist die Exilhauptstadt der Tibeter – 120.000 von ihnen leben in Indien. In den engen Gassen des Ortsteils McLeod Ganj wird deutlich, welche zentrale Rolle die Religion hier spielt. Zwar reiht sich Geschäft an Geschäft, doch in der Mitte der Einkaufszone steht der Namgyal-Stupa, der Tempel mit den großen Gebetstrommeln, der von morgens bis abends Gläubige anzieht. Unbeirrt vom Treiben auf der Straße umrunden sie das Heiligtum und murmeln dabei „Om mani padme hum“ (Oh, Du Juwel in der Lotusblüte), die alte Lobpreisung des Dalai Lama.

Autor

Klemens Ludwig

ist freier Journalist in Tübingen mit dem Spezialgebiet Asien. Er hat mehrere Bücher über Tibet veröffentlicht, zuletzt gemeinsam mit Holm Triesch den Kriminalroman "Gendün - die Rückkehr des Panchen Lama" (Longtai Verlag, 2012).

Die Menschen begegnen einander mit Respekt und Offenheit, und sie leben ihren Glauben öffentlich. Morgens und abends pilgern Frauen in ihren langen, eng geschnittenen Kleidern, den Chubas, und Männer in den traditionellen Mänteln aus Lammfell zum großen Tempel, der etwas unterhalb der Siedlung liegt. Ihm gegenüber befindet sich die Residenz des Dalai Lama.

Doch nicht nur Religion und Kultur prägen das tibetische Exil. Seit der Dalai Lama 1959 aus dem besetzten Tibet fliehen musste und ihm Zehntausende seiner Landleute gefolgt sind, ist hier eine demokratische Ordnung geschaffen worden, die es weder im alten Tibet gegeben hat noch heute unter der chinesischen Herrschaft gibt. Am 2. September 1960 trat erstmals eine „Kommission der Abgeordneten des tibetischen Volkes“ mit zwölf Mitgliedern zusammen.

Heute gehören dem Parlament 43 Abgeordnete an, die alle fünf Jahre in geheimen und direkten Wahlen aus den Exilgemeinden gewählt werden. Es tagt jedes Jahr im März und September für etwa zwei Wochen. 2001 wählten die 170.000 Tibeter im Exil erstmals direkt den Regierungschef. Er ist für fünf Jahre im Amt und kann einmal wiedergewählt werden. Seine Regierung wird allerdings von niemandem anerkannt und verfügt allenfalls über moralische Autorität; die meisten Tibeter – schätzungsweise 4,5 bis 6 Millionen – leben in China.

2011 hatte die Wahl der Exiltibeter eine besondere Bedeutung, denn kurz zuvor war der Dalai Lama – das traditionelle geistliche und weltliche Oberhaupt – von seinen politischen Ämtern zurückgetreten. Er wollte damit die demokratisch legitimierten Strukturen stärken. Seine weit wichtigere Funktion als geistliches Oberhaupt bleibt hingegen bestehen, und als solches wird er von den politisch Mächtigen der Welt empfangen. Nach tibetischem Verständnis verkörpert der Dalai Lama den Bodhisattva Chenrezig, ein erleuchtetes Wesen des unendlichen Mitgefühls. Das verleiht ihm seine Autorität. Für den tibetischen Freiheitskampf bleibt der Dalai Lama der überzeugendste Vermittler nach außen und die wichtigste Integrationsfigur nach innen.

Viele Tibeter sind mit den etablierten Kräften nicht mehr zufrieden

Zum Ministerpräsidenten gewählt wurde ein Mann, der nicht zum exiltibetischen Establishment in Indien zählte: Lobsang Sangay, ein smarter und selbstbewusster Harvard-Jurist, der sich im Wahlkampf mit dem US-Präsidenten Barack Obama verglich. Die Wahl hat deutlich gemacht, dass viele Tibeter mit ihren etablierten Kräften offenbar nicht mehr zufrieden sind. Denn sie befinden sich in einem nahezu unüberwindlichen Dilemma: Kaum einem Volk wird weltweit so viel Sympathie entgegengebracht; und kaum eines hat politisch so wenig erreicht. In den Exilgemeinden kursiert deshalb ein böser Spruch: „Wir sind die Pandabären der Weltgeschichte. Jeder liebt uns, aber keiner tut etwas für uns.“

Ähnlich ambivalent behandelt auch Indien die Tibeter. Als China Tibet 1951 annektierte und der Dalai Lama acht Jahre später fliehen musste, suchte Ministerpräsident Jawaharlal Nehru den freundschaftlichen Kontakt zu Peking und spielte den Konflikt in Tibet herunter. Während in Lhasa im März 1959 ein Volksaufstand tobte, erklärte Nehru der Welt: „Dort prallen unterschiedliche Ansichten, aber keine Waffen, aufeinander“. Er machte den tibetischen Flüchtlingen von Beginn an klar, dass sie nicht auf politische Hilfe hoffen könnten und von anti-chinesischen Aktivitäten absehen müssten.

Gleichzeitig versprach er ihnen soziale Unterstützung und hielt dieses Versprechen. Da sich Indien als Ursprungsland des Buddhismus betrachtet, erfahren die Tibeter einige Sympathie. Sie haben es geschafft, im Norden, aber auch im Süden Indiens, wo viele von ihnen angesiedelt wurden, blühende Gemeinden aufzubauen. Sie können ihre Traditionen pflegen und ihre Religion frei ausüben.

Der Einmarsch Chinas in den zwischen beiden Ländern umstrittenen Teilen Tibets 1962 – ein großer Schock für Nehru – eröffnete den Tibetern etwas mehr politischen Spielraum, denn seitdem betrachten sich die beiden asiatischen Großmächte mit Misstrauen. Wären China und Indien freundschaftlich miteinander verbunden, würde Peking gewiss dafür sorgen, dass die Tibeter keine Basis mehr in Indien hätten. Doch sein Einfluss reicht nicht so weit, obwohl der Kommunistischen Partei die Aktivitäten der Exil-Tibeter ein Dorn im Auge sind.

Keine Regierung der Welt will den Zorn Pekings auf sich ziehen

1988 hat der Dalai Lama den Anspruch auf Unabhängigkeit für Tibet aufgegeben und eine echte Autonomie unter chinesischer Flagge zum Ziel des tibetischen Kampfes erhoben. Dennoch hat sich in Peking nichts bewegt. Der Dalai Lama bleibt für die chinesische Führung das wichtigste Feindbild. Und keine Regierung in Asien, Europa oder auf dem amerikanischen Kontinent hegt ernsthaft die Absicht, wegen der Tibetfrage den Zorn Pekings auf sich zu ziehen. Ein Empfang des Dalai Lama, etwa von Bundeskanzlerin Angela Merkel 2007, ist das Äußerste. Auch in Indien denkt niemand daran, die Exilregierung anzuerkennen. 

An der politischen Ausrichtung der Exilgemeinde hat sich durch die Amtsübernahme von Lobsang Sangay nichts geändert. Er folgt der Linie, die der Dalai Lama vorgibt; so wie die meisten Tibeter. Dessen Autorität bleibt unberührt von jeder politischen Emanzipation. Allerdings ist es Sangay gelungen, als „zweites Gesicht“ Tibets wahrgenommen zu werden. Wenn er auf Auslandsreise geht, wird er von Politikern empfangen, wenn auch nicht offiziell als Regierungsgast, und von den Medien beachtet.

Die Blockade Pekings konnte aber auch er nicht brechen, und so mehren sich Stimmen, die Zweifel an der bisherigen politischen Linie hegen. Daran entzündet sich der größte Konflikt in den Exilgemeinden: Für welches Ziel kämpfen die Tibeter? Für eine Autonomie oder für die Unabhängigkeit? Aus dem Umfeld des Jugendkongresses sowie von einigen tibetischen Intellektuellen wird der Verzicht auf die Unabhängigkeit kritisiert. Damit habe man keinerlei Spielraum mehr, falls es zu Verhandlungen kommen sollte.

Zudem sei es leichter, die Menschen für ein klares Ziel zu mobilisieren, statt für eine schwammige Autonomie. Auch andere Signale der gewählten Vertreter lehnen die Kritiker ab. So nennen sich die politisch Verantwortlichen nicht mehr „Regierung im Exil“, was einen klaren völkerrechtlichen Anspruch enthält, sondern „Zentrale Tibetische Verwaltung“.  Diese Debatten sieht der Dalai Lama gelassen: „Sie kritisieren mich, ich kritisiere sie, das ist normal“, sagt er dazu.

Das Postulat der Gewaltlosigkeit steht in Frage

Noch fundamentaler ist eine andere Kontroverse, für die der Dalai Lama keinerlei Verständnis zeigt: Ist es sinnvoll, weiterhin auf strikter Gewaltlosigkeit zu beharren? Für den Dalai Lama ist der gewaltfreie Kampf keine taktische, sondern eine grundsätzliche Frage, bei der er keinerlei Abstriche macht. Mehrfach hat er angedroht, sich vollkommen zurückzuziehen, falls die Tibeter den Weg der Gewaltfreiheit verlassen. Zwar gibt sich niemand der Illusion hin, die chinesische Volksbefreiungsarmee vom Dach der Welt vertreiben zu können. Aber es wird darüber diskutiert, ob gelegentliche militante Aktionen dazu beitragen könnten, dass die Tibeter politisch ernst genommen werden und ihr „Pandabär-Image“ loswerden. Nicht ohne Grund verweisen die Kritiker darauf, dass der gewaltfreie Kampf politisch nichts erreicht hat und die Menschen in Tibet immer mehr in die Verzweiflung gestürzt würden. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Welle von Selbstverbrennungen, denen bereits mehr als 50 Frauen und Männer in Tibet zum Opfer gefallen sind.

Viele fürchten, nach dem Tod des Dalai Lama könnten diese Widersprüche offen zu Tage treten und den Befreiungskampf spalten oder radikalisieren. Der Tod eines Dalai Lama stürzt die tibetische Gesellschaft stets in eine große Krise – in alten Zeiten endete sie, wenn die neue Inkarnation gefunden war. Doch die derzeitige Lage ist ungleich schwieriger. Durch die chinesische Besetzung, die darauffolgende Zerstörung nahezu aller Klöster und Tempel sowie die Ansiedlung von Millionen Chinesen befinden sich die Tibeter in der größten Krise ihrer Geschichte. Nichts deutet darauf hin, dass der Dalai Lama zu seinen Lebzeiten in ein freies Tibet zurückkehren könnte.

Die Tibeter hoffen pragmatisch, dass er lange lebt. Sie gehen davon aus, dass ein so hoher Geistlicher selbst bestimmen kann, wo und wann er wiedergeboren wird. Darin stärkt sie der Dalai Lama, wenn er sagt: „Ich werde mich so lange wieder inkarnieren, wie das tibetische Volk es wünscht. Unter den derzeitigen Bedingungen wird es jedoch keine neue Inkarnation des Dalai Lama in Tibet geben, weil Religionsfreiheit und die Möglichkeit einer umfassenden Ausbildung nicht gewährleistet sind.“

Auch die Chinesen bereiten sich auf die Zeit nach dem Tod des Dalai Lama vor. Sie hegen offenbar den Plan, einen eigenen Kandidaten für seine Nachfolge zu präsentieren. Im September 2007 hat das Büro für Religiöse Angelegenheiten verfügt, Inkarnationen würden nur dann anerkannt, wenn sie im chinesischen Machtbereich gefunden werden – als ob sich geistliche Lehrer bei der Frage nach ihrer Wiedergeburt der Gesetzgebung einer kommunistischen Macht unterwerfen würden. Um eine Eskalation zu verhindern, setzt die Exilführung um Lobsang Sangay auf den Karmapa, das erst 27-jährige Oberhaupt der Karma-Kagyü-Schule, eine der vier Hauptrichtungen des tibetischen Buddhismus. Er könnte mit seiner Autorität dazu beitragen, eine Krise nach dem Tod des Dalai Lama zu meistern. Das ersetzt jedoch nicht die Suche nach einem neuen geistlichen Oberhaupt.

Wird China unter neuer Führung seine Haltung ändern?

Ob der Karmapa allerdings von allen Tibetern als höchste Autorität anerkannt wird, ist fraglich, denn als weltliche Autorität hat er im Gegensatz zum Dalai Lama nie eine Rolle gespielt. Und er war auch schon Gegenstand schwerwiegender Verdächtigungen. Anfang 2011 fand die indische Polizei in seinem Kloster mehr als eine Million Dollar in verschiedenen Währungen, unter anderem in Yuan. Das ließ wilde Spekulationen blühen, ob der Karmapa ein chinesischer Spion sei. Der wies die Vorwürfe zurück und erklärte, das Geld seien Spenden von Gläubigen aus aller Welt, die ordnungsgemäß verbucht worden seien. Die Tibeter reagierten empört auf das Vorgehen der indischen Behörden und erklärten ihm ihre Solidarität.

Politisch befinden sich die Exil-Tibeter in einer Sackgasse. Die Gespräche mit China, die vor den Olympischen Spiele von 2008 begonnen wurden, sind abgebrochen worden, die Kommunistische Partei wird wohl auch unter einer neuen Führung ihre Tibetpolitik nicht ändern und Ministerpräsident Lobsang Sangay wird in Peking ebenso ignoriert wie seine Vorgänger. Manche Tibeter emigrieren in Industrienationen, weil sie sich dort bessere Zukunftsperspektiven erhoffen. Wer bleibt, wendet sich häufig noch stärker als zuvor der Religion zu – und hält an der Hoffnung fest, dass es irgendwann einmal wieder ein freies Tibet geben wird, auch wenn derzeit niemand eine Strategie dafür parat hat.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2012: Leben mit dem Klimawandel
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