Das Wasser bis zum Hals

Nehmen wir in den reichen Ländern die Gefahren zu leicht, die die Erderwärmung bringen könnte? Unterscheidet uns das von Menschen in einem ärmeren Land wie Ghana, die die Folgen schon heute spüren? Keineswegs.

An der Oder im Osten Brandenburgs: Wer hier lebt, ist sich der Gefahr von Hochwasser spätestens seit 1997 bewusst. Seit die Leute hier ihr Hab und Gut in den Fluten verloren haben, ist für sie eine solche Katastrophe nicht mehr unvorstellbar. Für viele Ältere war sie das schon vorher nicht, denn das Hochwasser von 1997 war nicht das erste. Einige Anwohner und Anwohnerinnen berichten, sie seien schon 1947 als Kinder aus dem überschwemmten Oderbruch evakuiert worden.

Trotzdem bleiben die Menschen hier. Andere Aspekte wiegen schwerer als die Furcht vor einer neuen Flut. Etwa die Verbundenheit zum Ort: Viele Familien leben schon lange an und mit der Oder, aber auch Zugezogene sehen hier ihre Heimat. Wirtschaftliche Gründe spielen ebenfalls eine Rolle: Viele haben sich hier eine Existenz aufgebaut oder einfach nicht die Mittel, andernorts neu anzufangen.

Autoren

Maike Böcker

Maike Böcker ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt "Katastrophen-erinnerung" am Kulturwissen-schaftlichen Institut in Essen.

Ingo Haltermann

Ingo Haltermann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt "Katastrophen-erinnerung" am Kulturwissen-schaftlichen Institut in Essen.

Menschen im ganzen Land nahmen vor 15 Jahren Anteil am Schicksal der Überschwemmten; aus ganz Deutschland kamen Spenden. In dieser Stimmung wurde die „Oderflut“ zu einem Symbol für die Verbundenheit von Ost und West. Die Frage, ob sich die Katastrophe wiederholen könnte, geriet in den Hintergrund; Normalität wurde hergestellt. Einige Anwohner und Anwohnerinnen erhöhten beim Wiederaufbau ihre Häuser, andere verzichteten auf ihre Kellerräume oder schlossen nun doch eine Hochwasserversicherung ab. Aber für viele blieb alles beim Alten.

Die Leute sprechen nicht gerne über die Zeit der Überschwemmung und auch nicht über eine mögliche Wiederholung. Viele wissen, dass das nicht auszuschließen ist, doch die Gefahr wird kleingeredet: Manche beruhigen sich, zu ihren Lebzeiten werde es schon kein weiteres Hochwasser mehr geben. So werden die Überschwemmungen von 1997 etwa als „hundertjährige“ bezeichnet; eigene Maßnahmen zum Schutz seien deshalb nicht nötig.

Wer hier lebt, rechnet mit nassen Füßen

Andere nehmen die Gefahr ernster: „Wenn man hier lebt, muss man damit rechnen, mal nasse Füße zu bekommen“, bemerkt ein Oderanrainer. Doch solche Äußerungen werden meistens relativiert: Aber es gibt ja den Deich, aber es kommt erst in 85 Jahren wieder, aber andere Orte sind auch gefährlich. So gehen viele mit dem inneren Widerspruch um, Opfer einer neuen Überschwemmung werden zu können, aber trotzdem am Ort der Gefahr zu bleiben. Und: Viele Leute halten es ohnehin für aussichtslos, dass der Mensch eingreifen kann: „Es ist halt die Natur, da kann man nichts machen.“

Gut fünftausend Kilometer südlich der Oder liegt Accra, die Hauptstadt von Ghana. Hier sind Überschwemmungen keine „Jahrhundertereignisse“, sondern fast alltäglich. In manchen Stadtteilen gibt es kaum jemand, der nicht von Gelegenheiten erzählen kann, bei denen seine Behausung knietief unter Wasser stand. Lediglich die ganz Alten erinnern sich noch an Zeiten, in denen es keine Überschwemmungen gab. Auf die Frage, wie das vermieden werden könnte, erntet man wie an der Oder nicht selten nur ein Achselzucken: Man könne den Regen nicht aufhalten. Die Regierung könnte die Kanäle erweitern, sie könnte verhindern, dass die Leute Überschwemmungsflächen besiedeln oder ihren Müll in den Abwasserkanälen entsorgen. Aber damit rechnet niemand. „Die leben an besseren Orten und sehen nichts von dem hier“, sagt ein Anwohner.

In vielen ärmeren Ländern ist der Staat nur schlecht darauf vorbereitet, mit Katastrophen umzugehen; die Vorsorge ist letztlich Privatsache. Für viele Haushalte stellt sich die Frage, wie viel von ihren knappen Ressourcen ihnen dafür zur Verfügung steht. Die Einwohner Accras geben für Wohnung und Ernährung im Schnitt rund zwei Drittel ihres Haushaltsbudgets aus. Nach Abzug der Kosten für andere Dinge wie Mobiltelefon und Internet, Transport, Bildung und Gesundheit bleibt meist nur noch ein kläglicher Rest, der für die Risikovorsorge verwendet werden könnte. Die Folge: In den meisten Fällen bleibt es bei kleinen Vorkehrungen wie dem Erhöhen von Türschwellen oder dem Anbringen von Hochregalen. Tatsächlich geht es vielen Anwohnern und Anwohnerinnen gar nicht darum, die Überschwemmungen zu verhindern. Sie wollen lediglich die Folgen in Grenzen halten und mit ihnen fertig werden.

Gesundheit und soziale Sicherheit sind wichtiger als Naturkatastrophen

Da die Überschwemmungen sich aus Sicht der Betroffenen durch eigenes Handeln ohnehin kaum beeinflussen lassen, ist für sie die Frage unerheblich, ob die Zukunft häufiger und noch heftigere Hochwasser bringen wird oder nicht. Tendenziell treten Naturgefahren gegenüber Dingen wie Gesundheit, sozialer Sicherheit und dem Streben nach Wohlstand in den Hintergrund. Und auch hier gilt wie an der Oder: Da die Entscheidung für einen gefährlichen Wohnort oft das Ergebnis einer Abwägung ist – etwa zwischen bezahlbarem Wohnraum und dem Wunsch nach einer sicheren Behausung –, bestätigen die Leute im Nachhinein sich selbst und anderen gegenüber die Richtigkeit ihrer Entscheidung, um innere Widersprüche zu vermeiden. Sie sagen zum Beispiel, sie hätten keine Wahl gehabt, oder relativieren die Gefahr.

Was wird die Zukunft bringen? Damit wollen sich viele Leute gar nicht befassen. Auch die Annahme, alles gehe so weiter wie bisher, ist weit verbreitet. Dass die Lage schlimmer wird, erwartet hingegen kaum jemand. Nein, sie werde besser werden. Die Regierung werde Kanäle bauen, man werde irgendwann sein Grundstück aufschottern. Und auch Gott wird uns helfen, übt sich die Mehrzahl in einer Art Zweckoptimismus. Am Regen wird sich nichts ändern. Der war schon immer da und das wird auch immer so bleiben.

Ob an der Oder oder in Accra: Die Menschen haben durchaus ein Bewusstsein für die potenzielle Gefahr durch Naturereignisse. Aber hier wie dort konzentrieren sie sich trotzdem  auf andere Aspekte in ihrem Leben. Auf den ersten Blick handeln sie nicht angemessen angesichts der Gefahren. Sie tun das aber nicht deshalb, weil sie diese Gefahren nicht wahrnehmen – im Gegenteil: Vom Pegelstand der Oder überzeugen sich die Menschen in Brandenburg am liebsten mit den eigenen Augen, und auch in Accra legt sich bei den nächtlichen Wolkenbrüchen niemand schlafen. Die Menschen befinden sich in einem Spannungszustand: Schritte, die nötig wären, um das Risiko möglichst klein zu halten, stehen im Konflikt mit anderen als bedeutsam empfundenen Aspekten des Lebens wie dem Heimatgefühl oder der Notwendigkeit, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Die potenzielle und somit wenig fassbare Gefahr wird ausgeblendet, um diesen Konflikt zu lösen.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2012: Leben mit dem Klimawandel
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