Löchriger Deckel

Mit dem Emissionshandel hat die Europäische Union (EU) 2005 als erste ein Instrument eingeführt, das den Ausstoß an Treibhausgasen auf wirtschaftlich möglichst günstige Art verringern soll. Doch dazu ist es nicht geeignet, weil die Menge der umlaufenden Emissionsrechte zu groß und nicht wirksam nach oben begrenzt ist. Die Position der EU vor den Klimaverhandlungen in Durban läuft darauf hinaus, die Schlupflöcher noch zu vergrößern.
Es hagelt böse Zahlen fürs Weltklima. Noch nie wurden weltweit so viel Treibhausgase in die Luft geblasen wie 2010, haben das Gemeinsame Forschungszentrum der EU (JRC) und die Niederländische Umweltbehörde im September errechnet. Die Kopenhagener Umweltagentur der EU hat das Anfang Oktober mit ihrer eigenen Rechnung bestätigt. Schlimmer noch: Die Zahlen der beiden Institute belegen, dass der riesige Finanz- und Verwaltungsapparat, der für das Emissionshandelssystem (ETS) der EU geschaffen worden ist, nicht wesentlich dazu beiträgt, den Treibhausgas-Ausstoß zu vermindern. Für die erste Phase des Emissionshandels in den Jahren 2005 bis 2007 ist überhaupt keine Minderung erkennbar, die sich auf die Einführung des ETS zurückführen ließe. Und während die Wirtschaft der EU-Länder Ende 2008 und 2009 kräftig schrumpfte, verringerte sich der Treibhausgas-Ausstoß nicht im gleichen Maße.

Würde der Emissionshandel wirken wie von seinen Erfindern geplant, dann hätten die Emissionen stärker als die Wirtschaftsleitung abnehmen müssen. Denn in der Rezession hätten modernere Anlagen, die beim Energieverbrauch effizienter sind, einen höheren Anteil an der gesamten Leistung stellen müssen, weil vorzugsweise weniger effiziente die Produktion einstellen. In Wirklichkeit liefen aber große Dreckschleudern unter den Kohlekraftwerken auf Volldampf, und moderne Anlagen wie beim Stahlkonzern ArcelorMittal wurden heruntergefahren oder ganz zugemacht. Der Emissionshandel hat das vermutlich sogar gefördert: Er erfasst in der EU rund 11.000 Kraftwerke und Großunternehmen der Industrie, die knapp 40 Prozent der EU-Emissionen ausstoßen. Diese Unternehmen verdienten in der Krise an überschüssigen Emissionsrechten, die ihnen in der ersten Phase des Emissionshandels vollständig, in der zweiten von 2008 bis 2012 noch zu 86 Prozent kostenlos zugeteilt worden sind. Und die Zuteilung war so reichlich, dass Mehrverbraucher sehr billig so viele Rechte hinzukaufen konnten, wie sie brauchten. Damit blieben dann natürlich ineffiziente Anlagen ohne teure Modernisierung in Betrieb.

Autor

Heimo Claasen

ist freier Journalist in Brüssel und ständiger Mitarbeiter von "welt-sichten".

Die Ausgabe von übermäßig vielen Emissionsrechten mag noch als Kinderkrankheit gesehen werden. Spätesten 2008, mit Beginn der zweiten Phase des ETS – nun wurden einige Anlagen mehr erfasst und die Kriterien für die Berechnung des Bedarfs verändert –, zeigte sich darin System: Die jährlich zugeteilten Rechte vermehrten sich, unter anderem wegen flexibler nationaler Quoten – ein großer Erfolg der Industrie-Lobbys und der auf ihre nationale Wirtschaft bedachten EU-Staaten.

Nur wurde damit nicht die Menge des Treibhausgas-Ausstoßes vermindert. Das ist nur der Fall, wenn die insgesamt zugeteilte Menge an Erlaubnissen abnimmt, die Obergrenze (cap, Deckel) also unter dem liegt, was vorher verbraucht wurde. Dann werden die Emissionsrechte knapp und der Zukauf teuer, so dass Unternehmen zu Modernisierungen veranlasst werden, die sie Energie effizienter nutzen lassen. Doch erst in der dritten Phase des europäischen Emissionshandels ab 2013 will die EU die Menge der ausgegebenen Emissionsrechte jährlich um 1,74 Prozent reduzieren, das ergibt eine Verringerung um knapp 14 Prozent bis 2020. Sie soll dazu beitragen, das Ziel von insgesamt (mit den nicht vom Emissionshandel erfassten Sektoren wie Verkehr und Landwirtschaft) 20 Prozent weniger Emissionen als 1990 zu erreichen. Erst in der dritten Phase soll auch der Anteil der kostenlos zugeteilten Emissionsrechte langsam sinken, aber erst 2027 sollen alle ersteigert werden müssen. So steigt auch der Erlös nur langsam, von dem vielleicht ein Teil in den Klimafonds gehen wird, der Entwicklungsländern bei der Bewältigung des Klimawandels helfen soll.

Theoretisch könnte cap and trade (deckeln und handeln) funktionieren. Allerdings gibt es dafür nur ein Beispiel aus der Praxis: Die USA haben mit Emissionshandel im vorigen Jahrhundert die Schwefelsäure aus der Verbrennung von Kohle in ihren Kraftwerken immerhin um gut zwei Fünftel vermindern können. Indessen senkten die EU-Länder mit gesetzlichen Regeln und ohne den Aufwand für den Ablasshandel ihre Schwefelabgase fast doppelt so stark. Dennoch verkaufte die US-Delegation unter Al Gore erfolgreich ihr cap-and-trade-System in den Klimaverhandlungen von Kyoto 1997 – andere, allen voran die EU, glaubten wohl, dass dann auch die USA dem Klimaprotokoll beitreten würden.

Das ist bis heute nicht passiert, und die EU hat allein ihr Emissionshandels-System ETS gegründet. Dessen Problem ist: Es hat keinen echten Deckel. In Kyoto nämlich wurde auch der Clean Development Mechanism (CDM) vereinbart. Unter dem können Industrieländer in „grüne“ Vorhaben in Entwicklungsländern investieren und sich die damit bewirkten rechnerischen Treibhausgas-Einsparungen auf die eigenen Minderungspflichten anrechnen. Unter dem CDM werden also Emissionsrechte geschaffen, die auch im europäischen Emissionshandel gelten. Sie sprengen dessen Mengenbegrenzung: Wer seine Rechte aus der Zuteilung der EU aufgebraucht hat, kann CDM-Zertifikate zukaufen.

Zwar sieht die EU-Regelung vor, dass in und von den EU-Ländern höchstens so viele CDM-Zertifikate zugelassen werden wie die Hälfte der unter dem ETS ausgegebenen Emissionsrechte. Es ist Sache der EU-Länder, mit ihren Erlaubnissen einerseits aus dem ETS und andererseits aus dem CDM insgesamt unter dem Limit ihrer jeweiligen Kyoto-Quoten zu bleiben. Die Zertifizierung von CDM-Projekten beim zuständigen UN-Gremium in Bonn ist zudem kompliziert und langwierig.

Aber trotzdem hat sich ein riesiger Markt entwickelt: Die Weltbank beziffert den Handel mit CDM-Zertifikaten im Jahr 2010 auf gut 15 Milliarden Euro, fast so viel wie ein Fünftel des Umsatzes mit ETS-Rechten. Ähnlich wie bei Aktien geht aber von den ETS- und CDM-Rechten nur ein kleiner Teil in den Handel. Wie viel, ist schwierig zu schätzen, doch Experten gehen davon aus, dass zwischen fünf und zehn Prozent wirklich den Besitzer wechseln. Der Großteil des Rechte-Handels besteht aus Termingeschäften und dem Handel mit Derivaten (von den Zertifikaten abgeleiteten Papieren), dessen Zweck spekulative Gewinne sind.

Dieser Handel könnte zusammenbrechen, wenn das Kyoto-Protokoll nicht vor Ende 2012 verlängert oder erneuert würde. Denn dann könnten die CDM-Zertifikate auf einen Schlag wertlos werden, weil sie im ETS nicht mehr anzurechnen wären. Ein Crash in diesem Umfang kann das ganze Emissionshandels-System gefährden. Die EU-Kommission setzt sich daher, vom Europäischen Parlament unterstützt, dafür ein, auf der Klimakonferenz im Dezember in Durban eine verbindliche Absprache über den Fortbestand des CDM zu erreichen.

Doch die EU will noch mehr: Zum einen soll der europäische Emissionshandel geografisch ausgeweitet werden, indem er mit den gerade neu gegründeten Emissionsbörsen in Australien und Neuseeland verknüpft wird. Dort sind jedoch die Kriterien für die Anerkennung von Zertifikaten sehr viel weicher. Zum anderen drängt die EU-Kommission darauf, für international geförderte Waldschutz- und Waldmanagementvorhaben im Süden ebenfalls Emissionsrechte entsprechend den eingesparten Treibhausgasen zu schaffen, verhandelbar unter dem CDM. Beides würde den Deckel, also die Obergrenze für die Emissionsrechte in der EU, noch löchriger machen und es entstünde ein Einfallstor für noch mehr Spekulation. Ein so konstruierter Emissionshandel trägt weniger zum Klimaschutz bei als zu Finanzgeschäften.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2011: Nigeria: Besser als sein Ruf
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