Zainap Gaschajewa war auf Geschäftsreise in Grosny, als die ersten Bomben fielen. Das Leben der Tschetschenin veränderte sich schlagartig: Während der beiden Tschetschenienkriege von 1994 bis 1996 und von 1999 bis 2009 dokumentierte die heute 57-Jährige die Geschehnisse. Mit Gleichgesinnten filmte sie Massengräber, Bombardierungen und Augenzeugenberichte. „Die Leute hatten schreckliche Dinge erlebt. Die Möglichkeit, sich vor der Kamera auszusprechen, war eine Erleichterung für sie“, berichtet Zainap Gaschajewa, die inzwischen in der Schweiz lebt und das neue Videoarchiv betreut.
Autorin
Anja Burri
ist Redakteurin bei der Schweizerischen Depeschenagentur sda und ständige Korrespondentin von "welt-sichten".„Die Tschetschenen konnten endlich erzählen, dass ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung stattfindet – und nicht gegen den Terrorismus, wie die offizielle Version Moskaus lautete. Wir gaben den Menschen die Möglichkeit, ihre eigene Wahrheit aufzuzeichnen“, fügt sie hinzu. Nicht nur die Zeitzeugen, sondern auch die Filmerinnen riskierten dafür ihr Leben. „Hätten die Militärs erfahren, dass im abgesperrten Gebiet gefilmt wird, hätten sie uns sofort erschossen“, sagt Zainap Gaschajewa.
Je länger der Krieg dauerte, desto schwieriger wurde die Arbeit. Einmal begleitete sie die später ermordete Journalistin Anna Politkowskaja in ein Dorf, in dem ein Mann mit Nägeln gekreuzigt worden war. „Die Menschen verjagten uns. Viele hatten Angst, andere glaubten einfach nicht mehr daran, dass die Videos etwas an ihrer Situation ändern könnten.“ Auch Zainap Gaschajewas Familie war der Repression des russischen Staates ausgesetzt: Immer wieder wurden ihre beiden Wohnungen in Grosny und Moskau durchsucht.
Ab dem Jahr 2000 transportierten die Menschenrechtsaktivistin und ihre Helfer die Videos, die in Erdlöchern lagerten und von Feuchtigkeit bedroht waren, in die Schweiz. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) unterstützte sie bei der Restauration. Daraus entstand die Idee, ein Archiv zu schaffen. Weitere 200 Aufnahmen von Menschenrechtsaktivisten und Journalisten kamen zu den Videos hinzu.
Seit Anfang November ist das Archiv in Bern der Öffentlichkeit zugänglich. Auf Anfrage können Juristen, Wissenschaftler, Journalisten, Opfer oder Angehörige die Quellen anschauen. Das laut der GfbV „weltweit umfangreichste Videoarchiv zu den Tschetschenienkriegen“ soll bei der Vergangenheitsbewältigung helfen: Die Videodokumente können als Beweismittel eingesetzt werden, um Menschenrechtsverletzungen aufzuklären und zur Anklage zu bringen. Die Original-Videobänder lagern in einem Schweizer Banksafe – wo genau, ist geheim. Denn für Klagen beim Gerichtshof für Menschenrechte sind Originalaufnahmen erforderlich. Die dürfen auf keinen Fall verschwinden.
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