„Unser einfaches Ziel ist es, in Frieden zu leben“

In Kolumbien schwelt seit Jahrzehnten ein Konflikt zwischen linksgerichteten Guerillagruppen, rechten Paramilitärs und der Armee. Ob sich der Tod des Chefs der „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens“ (Farc), Alfonso Cano, Anfang November darauf auswirken wird, ist unklar. Die Friedensgemeinde San José de Apartadó im Norden des Landes will in diese Auseinandersetzungen nicht hineingezogen werden. Seit fast 15 Jahren beharrt sie auf ihrem Recht, in Frieden zu leben. Dafür wird sie von allen Seiten bedroht.

Warum haben Sie eine Friedensgemeinde gegründet?

Jesús Emilio Tuberquia: Unsere Gemeinde San José de Apartadó hat sich 1997 gegründet, mit dem einfachen Ziel, in Frieden zu leben. Wir sind Bauern. Während des kolumbianischen Bürgerkriegs gerieten wir immer wieder zwischen die Fronten der Guerilla und der staatlichen Armee. Wir wollten mit keiner der beiden Seiten zusammenarbeiten, um nicht in den bewaffneten Konflikt hineingezogen zu werden. Mit einer Erklärung haben wir uns damals an die Regierung und an die Öffentlichkeit gewandt. Wir haben gefordert, dass sie unser Leben und unser Eigentum respektieren. Dabei beriefen wir uns auf das humanitäre Völkerrecht, das den Schutz der Zivilbevölkerung vorschreibt.

Wie organisieren Sie Ihr Zusammenleben?

Jesús Emilio Tuberquia: In unserer Gemeinde leben etwa 1000 Menschen. Der Besitz oder das Tragen von Waffen sind auf unserem Gelände verboten. Wir kooperieren mit keiner der bewaffneten Parteien und geben auch keine Informationen weiter. Jedes Mitglied muss außerdem einer gemeinnützigen Arbeit nachgehen. Es darf kein Koka angebaut oder konsumiert werden. Drogen und Alkohol werden bei uns nicht akzeptiert. Wir haben diese Regeln bei der Gründung der Gemeinde gemeinsam aufgestellt. Wer sich uns anschließt, erklärt sich freiwillig bereit, sie zu befolgen.

Und wovon leben Sie?

Jesús Emilio Tuberquia: Die meisten von uns sind Bauern. Einige besitzen ihr eigenes Land. Wir haben aber auch gemeinsame Landflächen, auf denen bauen wir zum Beispiel Mais, Kakao, Bananen und Reis an. Die Stärke unserer Gemeinde ist unser großes Zusammengehörigkeitsgefühl. Alle tragen etwas zum Zusammenleben bei.

Akzeptieren die Konfliktparteien, dass Sie nicht mit ihnen zusammenarbeiten?

Noelia Tuberquia: Nein, wir leben unter ständiger Bedrohung. Innerhalb der vergangenen 15 Jahre wurden 200 Menschen getötet. 2005 wurde in unserem Dorf ein Massaker verübt, bei dem acht Menschen getötet wurden, darunter drei Kinder. Zu den Verantwortlichen gehörten staatliche Sicherheitskräfte. 2010 kam endlich ein Prozess in Gang, bei dem mehrere Paramilitärs und staatliche Militärs mittleren Ranges verurteilt wurden.

Jesús Emilio Tuberquia: Nicht nur die Mitglieder unserer Gemeinde werden regelmäßig bedroht. Alle Bauern in unserer Umgebung leiden unter dem Konflikt. Menschen wurden gefoltert oder gewaltsam verschleppt, Frauen vergewaltigt und Bauern von ihrem Land vertrieben.

Wen fürchten Sie mehr – die Paramilitärs, die Guerilla oder die staatlichen Sicherheitskräfte?

Jesús Emilio Tuberquia: Wir unterscheiden nicht zwischen den Paramilitärs und dem Staat. Die Paramilitärs bedrohen uns im Auftrag der kolumbianischen Armee. 30 Morde gehen auf das Konto der Guerilla. 170 Morde hat die Regierung zu verantworten.

Warum akzeptiert die Regierung Ihre Forderung nach Neutralität nicht?

Jesús Emilio Tuberquia: Die Regierenden wollen nicht anerkennen, dass wir unabhängig bleiben wollen. Weil wir nicht mit ihnen kooperieren, betrachten sie uns als Gegner. Wir wurden öffentlich als Guerilla-Organisation bezeichnet und es ist bekannt, dass der kolumbianische Staat seit 1972 Paramilitärs als Teil der Kriegsführung gegen die Guerilla-Gruppen einsetzt.

Noelia Tuberquia: Auch ökonomische Interessen spielen eine wichtige Rolle. Unsere Region ist eine landwirtschaftlich sehr fruchtbare Region, es werden Erdölvorkommen vermutet und die Nähe zur Küste macht sie für Investoren interessant. Viele internationale Konzerne haben bereits Interesse bekundet. Erst kürzlich haben wir erfahren, dass Präsident Juan Manuel Santos Südkorea eine Lizenz zur Erdölförderung versprochen hat. Unsere Zukunft sehen wir also sehr pessimistisch.

Wie können Sie den unabhängigen Status Ihrer Gemeinde aufrecht erhalten?

Noelia Tuberquia: Uns hilft die ständige Präsenz von internationalen Menschenrechtsorganisationen aus den USA und Europa. Die öffentliche Aufmerksamkeit schützt uns bis zu einem gewissen Maß. Einzelne Gemeindemitglieder, die Morddrohungen erhalten haben, werden stets begleitet, wenn sie das Dorf verlassen. Die Organisationen haben uns außerdem geholfen, Schulen, Bibliotheken und Restaurants aufzubauen.

Jesús Emilio Tuberquia: In unmittelbarer Nähe zu unserem Dorf hat die Regierung einen Polizeistützpunkt errichtet. Die Polizei soll uns beschützen, sie bringt uns aber in Gefahr. Denn durch die staatliche Präsenz werden wir zum Angriffsziel von Guerilla-Gruppen. Außerdem widerspricht das unserer Forderung nach Neutralität.

Verhandeln Sie mit der Regierung über Ihren Status?

Jesús Emilio Tuberquia: Wir haben den Dialog nach dem Massaker 2005 abgebrochen und verhandeln erst wieder mit der Regierung, wenn sie unseren Forderungen nachkommt. Wir wollen, dass eine unabhängige Kommission die Morde und Menschenrechtsverletzungen an unserer Gemeinde vor Ort untersucht und vor Gericht bringt. Außerdem soll der Polizeistützpunkt neben unserer Gemeinde verschwinden. Mitglieder der Regierung, die uns öffentlich als Guerilleros und Terroristen bezichtigt haben, sollen diese Verleumdung zurücknehmen. Außerdem verlangen wir die Errichtung humanitärer Zonen. Wenn es zu Kämpfen zwischen Soldaten und Guerilleros kommt, brauchen wir einen Ort, an den wir uns zurückziehen können. Die Regierung soll den Schutz der Zivilbevölkerung garantieren.

Laut der kolumbianischen Regierung sind seit 2003 zehntausende Paramilitärs demobilisiert worden.

Jesús Emilio Tuberquia: Es hat keine Demobilisierung stattgefunden. Wir werden nach wie vor von Paramilitärs bedroht. Auch unter Santos hat sich die Situation nicht verändert.

Überlegen Sie manchmal, wegzuziehen?

Noelia Tuberquia: Nein, wir wollen nicht woanders hin. Wir werden weiterhin für unser Leben und unser Territorium streiten. Dafür suchen wir die internationale Unterstützung.

Das Gespräch führte Saara Wendisch.

www.cdpsanjose.org


Jesús Emilio Tuberquia
lebt seit seiner Geburt in der Friedensgemeinde San José de Apartadó.

Noelia Tuberquia
ist seit 1999 Mitglied der Gemeinde. 2004 wurde ihre zweijährige Tochter vor ihren Augen von Soldaten ermordet.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2011: Bodenschätze: Reiche Minen, arme Länder
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