Herr Spiegel, Misereor hat für seine Fastenkampagne einmal den Slogan „Mit Zorn und Zärtlichkeit an der Seite der Armen“ gewählt. Was ist Ihnen näher, der Zorn oder die Zärtlichkeit?
Beides gehört unbedingt zusammen. 15 Jahre lebte ich im Nordosten Brasiliens. Ich traf immer wieder auf Korruption und Ausgrenzung, Situationen, in denen es nicht darum geht, Menschen zu befähigen, sondern um Macht und Geld. Wie da nicht an das Evangelium denken, in dem es heißt „voll Zorn und Trauer sah Jesus sie an“. Die Empörung ist nötig, um für die größere Sache der Gerechtigkeit zu kämpfen. Aber wenn ich dabei stehen bleibe, besteht die Gefahr, aggressiv und kalt zu werden. Da kommt die Zärtlichkeit ins Spiel, mit der ich versuche, an der Seite der Armen zu bleiben.
Wo kommt denn in der Arbeit von Misereor beides zusammen?
In der Nähe von Kapstadt habe ich vor kurzem mit der Leiterin eines Projektes gesprochen, das sich um Kinder und Jugendliche kümmert. Sie sagte, die Kinder könnten nicht mehr träumen, sie hätten keine Perspektive, die Schönheit der Welt zu sehen. Die Apathie der Eltern, die arbeitslos sind oder Alkoholprobleme haben, hat auf sie abgefärbt. Viele Mädchen werden als Teenager schwanger, Jugendliche bekommen keinen Job. Hier müssen wir mit Zorn sagen, dass das so nicht bleiben kann. Aber wir können zugleich die Eltern nicht verurteilen. Wärme, Bestimmtheit und Zuneigung können Auswege aus diesem Teufelskreis zeigen.
Bevor Sie Hauptgeschäftsführer von Misereor wurden, haben Sie in Brasilien Laienmissionare ausgebildet. Sehen Sie einen Konflikt zwischen Mission und Entwicklung?
Entwicklungszusammenarbeit bedeutet Leben verteidigen, Leben bewahren, Leben ermöglichen. Das geht nicht ohne einen klaren Standpunkt. Wer Missstände nicht anklagt, gerät in Gefahr, unbefriedigende Zustände zu befestigen. Von unserem Glauben her stellen wir eine ausschließliche Fixierung auf wirtschaftliches Wachstum in Frage, weil das der Würde des Menschen nicht gerecht wird. Insofern sind wir nicht neutral. Aber zwangsweise Missionierung, das Aufzwingen einer anderen Ideologie, lehnen wir ab und ebenso, den Menschen nur unter der Bedingung zu helfen, dass sie Christen werden. Bei der Gründung von Misereor hat Kardinal Joseph Frings 1958 schon gesagt: Wir stehen an der Seite der Leidenden unabhängig von Religionszugehörigkeit, Hautfarbe und Geschlecht.
Misereor bekommt einen großen Teil seiner Mittel vom Staat und verfügt darüber frei, mit einer Einschränkung: Sie dürfen nicht für Mission verwendet werden. Wie können Sie das gewährleisten?
Unsere Partner und wir kennen die Kriterien. Wie gesagt ist Proselytismus keine denkbare Option. Die Angst vor dem Aufzwingen wird mitgedacht beim Missionsverbot. Da sind wir völlig einverstanden.
Misereor engagiert sich in vielen Bereichen. Welchen besonderen Schwerpunkt möchten Sie in den kommenden Jahren setzen?
Eine Herausforderung ist die Zukunftsfähigkeit des Werkes. Unsere Spenderinnen und Spender sind in der Mehrzahl 60 Jahre oder älter und auch der Bekanntheitsgrad von Misereor ist in dieser Altersgruppe am höchsten. Wir überlegen, wie wir den Perspektiven des Südens in der jüngeren Generation mehr Raum geben können.
Haben Sie schon Vorstellungen, wie Sie das tun wollen?
Wir haben im August drei Pilotprojekte in Schulen in den Diözesen Freiburg, Speyer und Rottenburg-Stuttgart begonnen, die auf drei Jahre angelegt sind. Wir finanzieren dort jeweils eine halbe Stelle eines Religionslehrers, der innerhalb der Lehrerkollegien und Lehrpläne Themen wie Entwicklungspolitik, Gerechtigkeit, Menschenrechte, Klima oder Hunger voranbringen soll. Das soll nicht nur im Fach Religion geschehen, sondern Fächer übergreifend. Ziel ist, dass Schulen die Perspektive des Südens in ihren Unterricht integrieren, weil wir davon überzeugt sind, dass wir diesen Dialog brauchen. Der Philosoph Theodor W. Adorno hat gesagt, wir müssen dort beginnen, wo Leid ist. Wir wollen wachrütteln für Lebenssituationen und Leiden, die sich nicht nur unmittelbar vor unserer Haustür abspielen.
Sie treten für einen einfacheren Lebensstil ein. Was verstehen Sie darunter?
Die Spaltung zwischen Nord und Süd kommt an ihr Ende. Reiche Eliten auf der einen und Ausgrenzung und Armut auf der anderen Seite gibt es in Kapstadt ebenso wie in São Paulo, Frankfurt und Berlin. Weltweit wächst die Ungleichheit. Außerdem kommen wir an menschliche, ökologische und ökonomische Grenzen des Wachstums. Wir haben nur einen Planeten. Die Suche nach alternativen Lebensstilen muss gleichzeitig als Systemfrage und als Frage der individuellen Lebensweise behandelt werden. Ich denke, vielen Menschen ist bewusst, dass es so nicht weitergehen kann, und sie wollen etwas ändern. Aber warum leben wir anders als uns wichtig ist?
Warum ist es so schwierig, etwas zu ändern?
Etwas Neues bedeutet Unsicherheit und kann im ersten Moment Angst machen. Auf meiner Reise durch Mosambik, Simbabwe und Südafrika haben Menschen, die für politische Befreiung eingetreten sind, gesagt: „Wir haben gekämpft, aber nicht, um arm zu bleiben.“ Dabei kommt der Ressourcenreichtum dieser Länder nur einer kleinen Elite zugute und die große Mehrheit profitiert nicht von Verbesserungen bei Bildung, Gesundheit und Infrastruktur. Es scheint immer noch darum zu gehen, in möglichst kurzer Zeit mit möglichst wenig Einsatz einen möglichst hohen Gewinn zu machen.
Aber müssen wir nicht im Süden andere Antworten finden auf die Frage nach einem neuen Lebensstil? Auf welche Haltung sind Sie in Lateinamerika und Afrika getroffen?
Wir brauchen eine differenzierte Entwicklung. In Ländern, in denen den Menschen das Nötigste zum Leben fehlt, brauchen wir sicher Wachstum, weil das der Würde des Menschen entspricht. Gleichzeitig darf unser konsum-orientierter Lebensstil nicht von Ländern des Südens kopiert werden. Differenziertes Wachstum kann möglich werden durch gegenseitiges Lernen. Aus Brasilien erfahren wir, wie man mit begrenzten Ressourcen in Würde leben kann, aus Kolumbien, wie man im Alltag Botschafter des Friedens werden kann. Im südlichen Afrika war greifbar, wie Menschen dem Gemeinwohl Vorrang geben. Da werden kleine Zeichen gesetzt.
Diese Zeichen sollten auch in die westliche Industriegesellschaft hineinwirken? Ist das denn realistisch angesichts von Leistungsdruck und Zeitmangel?
Misereor ist nur ein Akteur unter vielen. Wir haben einen Haushalt von 180 Millionen Euro im Jahr und angesichts der Milliardenbeträge, die jeden Tag um die Welt zirkulieren, sind wir wie ein Senfkorn. Aber wir können Zeichen setzen! Mit diesen Zeichen werden wir nicht einen enggeführten Neoliberalismus abschaffen, aber wir können Menschen spürbar machen, dass sie nicht in einer gottverlassenen Welt leben. Und wir können deutlich machen, dass unser jetziges Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell nicht vom Himmel gefallen ist, sondern dass Interessen dahinter stehen. Mit unseren Partnern im Süden sprechen wir über die Frage: Wie sollen und wie wollen wir leben, damit alle leben können?
Was bekommen Sie für Antworten?
Ein Beispiel aus Johannesburg: Dort arbeitet ein Projektpartner mit Jugendlichen, die durch Erfahrungen von Fremdenfeindlichkeit traumatisiert sind. Die Leiterin der Organisation sagt: Wir wollen in Zukunft so leben, dass der andere nicht als Bedrohung gesehen wird, sondern als einer, an dem ich selbst wachsen und mich den Anforderungen der Welt stellen kann. Wir stellen uns vor, dass wir solche Antwortversuche in drei oder vier Jahren in einer gemeinsamen Kampagne aufbereiten können.
Wie wichtig ist der Austausch zwischen Süd-Partnern aus verschiedenen Kontinenten?
Als drängendstes Problem wurde uns von Vertretern aus Afrika, Asien und Lateinamerika übereinstimmend der Umgang mit Rohstoffen genannt. Es darf nicht sein, dass Ressourcenreichtum arm macht. Es geht um Fragen der Verteilung, aber auch um die Anerkennung der Anderen, zum Beispiel das Schicksal indigener Völker, die oft für die Rohstoffförderung von ihrem Land vertrieben werden. Wir möchten ein Forum bieten, dass sich Partner darüber austauschen können und eine andere Logik erarbeiten.
Wie haben Sie auf Ihrer Reise durch Afrika die Rolle der Kirchen erlebt? Haben sie eine ähnlich große Bedeutung wie in Lateinamerika?
Der Beitrag der christlichen Kirchen in der Friedensarbeit, im Engagement für die Menschenrechte und für ein gutes Leben für alle wird stark wahrgenommen. Der Erzbischof von Südafrika sagte, dass nur sieben Prozent der Bevölkerung seines Landes katholisch seien. Aber die Prägungsmöglichkeiten der katholischen Kirche seien aufgrund ihrer sozialen Arbeit in den Townships und der Vernetzung viel größer. In Afrika spielt die Großfamilie eine wichtige Rolle, ebenso die Tradition, die Wurzeln, die Beweggründe, aus denen man sich engagiert. Und das hat mit Religion zu tun.
In Simbabwe werden im kommenden Frühjahr ein neues Parlament und ein neuer Präsident gewählt. Engagiert sich die katholische Kirche in der Vorbereitung?
Verschiedene kirchliche Initiativen und Institutionen versuchen, die Menschen in Simbabwe auf die Wahl vorzubereiten und die Inhalte der neuen Verfassung publik zu machen, etwa die Kommission für „Gerechtigkeit und Frieden“ der katholischen Bischofskonferenz. Das von Jesuiten geführte Silveira-Haus berät Dorfgemeinschaften, Rechtspfleger und so weiter, wie sie unter anderem zu einem friedlichen Ablauf der Wahlen beitragen können. Und der von uns unterstützte Sender „Radio Dialogue“ in der Stadt Bulawayo etwa informiert mit Live-Veranstaltungen in Randvierteln und vor Einkaufszentren über die Inhalte der Verfassung und trägt so zur Bewusstseinsbildung bei.
Sie haben auf Ihrer Reise auch Aids-Projekte besucht. Der Umgang mit Kondomen ist ja in der katholischen Kirche umstritten. Bringt Sie das in einen Zwiespalt?
Etwa ein Viertel aller Aidskranken in Afrika wird von kirchlichen Organisationen betreut und begleitet. Misereor ist ein bischöfliches Hilfswerk und dazu stehen wir – die Kondomfrage ist in der Tat ein Dauerbrenner. Im Umgang mit HIV-Infizierten und Aidskranken verfolgen wir einen ganzheitlichen Ansatz. Sich auf die Verteilung von Kondomen zu konzentrieren, würde suggerieren, dass es rein medizinische Lösungen für eine Vorbeugung gibt. Entwicklungspolitisch ist das aber nur ein Instrument unter vielen. Zugleich sollten wir unterscheiden zwischen Empfängnisverhütung und dem Ziel, Leben zu schützen und zu bewahren. Wir finden es wichtig, die Bekämpfung von Aids innerhalb einer umfangreichen Strategie der Armutsbekämpfung zu sehen, also auch dafür zu sorgen, dass die Stigmatisierung abgebaut wird und dass Infizierte die Chance bekommen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Aids ist Folge von Armut und verstärkt Armut. Die Perspektive der Gerechtigkeit herausstellen zu können – das ist ein Gewinn der Diskussion über Kondome.
Trotzdem stellt sich ja für Ihre Partner die konkrete Frage: Kondome verteilen oder nicht.
Einer unserer nichtkirchlichen Partner in Harare berät und behandelt Aidskranke und versorgt sie mit Medikamenten. Kondome verteilen sie, wenn sie danach gefragt werden. Darüber sind wir miteinander im Gespräch. Mir ist in dieser Frage ein ehrlicher und transparenter Austausch wichtig.
Das Gespräch führte Gesine Kauffmann
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