Als der syrische Aufstand sich im Frühjahr 2011 zu formieren begann, gingen viele Beobachter davon aus, dass die Kurden hier eine Schlüsselrolle spielen würden. Sie galten – obgleich in ein gutes Dutzend illegaler Parteien zersplittert – als der bestorganisierte Teil der syrischen Opposition. In Syrien leben etwa zwei Millionen Kurden, nach den Arabern sind sie die zweitgrößte ethnische Gruppe in einer Bevölkerung von rund zwanzig Millionen. Ihre Hauptsiedlungsgebiete liegen in drei Enklaven entlang der syrisch-türkischen Grenze: in Afrin, Ain al-Arab sowie in dem als Dschasira bekannten Gebiet in der Provinz Al-Hasaka.
Im Frühjahr 2011 waren die Bilder aus dem März 2004 noch lebendig: Damals hatten sich Unruhen im Anschluss an ein Fußballspiel in Al-Qamischli, der größten Stadt in der Provinz Al-Hasaka, zu regimekritischen Massendemonstrationen in den kurdischen Gebieten und darüber hinaus ausgeweitet. Die syrische Regierung fürchtete, dass Massenproteste erneut auf die lange Zeit ruhigen Metropolen Damaskus und Aleppo übergreifen und den Aufstand auch dort entfachen könnten – in beiden Städten lebt eine große kurdische Gemeinschaft. Deshalb bat Baschar al-Assad die kurdischen Parteiführer im Juni 2011 erstmals offiziell zum Gespräch. Und deshalb bürgerte er bereits im April 2011 einen Großteil der in den 1960er Jahren ausgebürgerten Kurden bzw. deren ebenfalls staatenlose Nachkommen – insgesamt über 200.000 – per Dekret ein und erfüllte so eine Hauptforderung der kurdischen Parteien.
Autoren
Eva Savelsberg
ist Mitarbeiterin der Internetseite www.kurdwatch.org, die sich mit der politischen Lage der Kurden in Syrien befasstSiamend Hajo
ist Mitarbeiter der Internetseite www.kurdwatch.org.Tatsächlich spielen die Kurden bislang keine wesentliche Rolle für die Mobilisierung der Bevölkerung. Der Ende Oktober 2011 gegründete Kurdische Nationalrat, in dem fast alle syrisch-kurdischen Parteien vereint sind, schreckte lange Zeit davor zurück, eindeutig den Sturz des Regimes zu fordern. Noch das im März 2012 verabschiedete Interimsprogramm fordert lediglich einen „grundsätzlichen demokratischen Wandel“, nicht aber das Ende der Herrschaft von Assads Baath-Partei. Dem Syrischen Nationalrat – dem wichtigsten Oppositionsbündnis, das klar für einen Regimewechsel eintritt – ist der Kurdische Nationalrat bis heute nicht beigetreten. Zu Beginn vor allem aus Furcht vor möglichen Vergeltungsmaßnahmen des Regimes und weil es an Vertrauen zur arabischen Opposition mangelte. Viele kurdische Parteivertreter gingen klammheimlich davon aus, mit Assad mehr „Zugeständnisse“ aushandeln zu können als mit neuen Machthabern.
Heute dürfte ein wichtiger Grund sein, dass einige Mitglieder des Kurdischen Nationalrats die Reaktion der Partei der Demokratischen Union (PYD) auf einen solchen Schritt fürchten. Bei der PYD handelt es sich um den 2003 gegründete syrisch-kurdische Flügel der militanten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die mit wenigen Unterbrechungen seit 1984 einen bewaffneten Kampf gegen die Türkei führt und deren Kämpfer teils in den Nachbarländern Unterschlupf finden. Die PYD, die dem Kurdischen Nationalrat nicht angehört, hat in den vergangenen Monaten erheblich an Einfluss in den kurdischen Gebieten Syriens gewonnen und geißelt den Syrischen Nationalrat und alle, die mit ihm kooperieren, als „Verräter“ und „Handlanger der Türkei“.
In den kurdischen Gebieten Syriens ist es bisher nicht zu nennenswerten Kämpfen zwischen der Armee Assads und den Rebellen der Freien Syrischen Armee gekommen. Dennoch haben sich dort die Machtverhältnisse seit Beginn des Aufstands maßgeblich verändert. Teils gingen diese Veränderungen von den Nachbarstaaten Syriens aus, in denen ebenfalls nennenswerte kurdische Bevölkerungsteile leben – also der Türkei, dem Irak und dem Iran –, teils gab es umgekehrt Rückwirkungen auf diese Staaten und deren kurdische Bevölkerung. So wird Dschalal Talabani, dem Präsidenten des Irak und Vorsitzenden der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), einer der führenden irakisch-kurdischen Parteien, eine Schlüsselrolle bei der Herstellung von Kontakten zwischen der syrischen Regierung, der PKK und dem Iran zugeschrieben. Talabani hat sowohl enge Beziehungen zum syrischen Regime – während der Herrschaft Saddam Husseins lebte er viele Jahre in Damaskus im Exil – als auch zum Iran, der die PUK immer wieder gegen ihre stärkste Konkurrentin im Irak, die Demokratische Partei Kurdistans (KDP), unterstützt hat. Auch mit der PKK bestehen keine Berührungsängste: Diese agierte während des „Bruderkriegs“ zwischen KDP und PUK im Nordirak Mitte der 1990er Jahre phasenweise auf Seiten der PUK.
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Vor diesem Hintergrund dürfte eine Art Handel geschlossen worden sein. Der iranische Arm der türkischen PKK, die Partei für ein Freies Leben in Kurdistan (PJAK), stellte kurz nach Beginn der syrischen Unruhen, im September 2011, ohne erkennbaren Grund ihren bewaffneten Kampf im Iran ein. Dies lag nicht nur im Interesse der iranischen Regierung, sondern auch in dem der PUK. Denn die bewaffneten Aktionen der PJAK zogen immer wieder Angriffe der iranischen Armee auf das angrenzende irakisch-kurdische Territorium nach sich. Etwa zur selben Zeit wurde die PYD in Syrien gestärkt: Bis zu zweihundert PKK-Kader aus der Türkei, dem Iran und dem Irak wurden, ausgerüstet mit vermutlich iranischen Waffen, nach Syrien geschickt, um die kurdische Bevölkerung von einer effektiven Beteiligung am Aufstand abzuhalten. Hiervon profitierte zum einen das syrische Regime, dessen Sicherheitskräfte die Kurden nicht direkt attackieren mussten. Die Gefahr war gebannt, dass Gewalt vonseiten des Regimes die syrisch-kurdischen Parteien provozieren würde, den Aufstand doch noch aktiv zu unterstützten. Und auch der Iran gehörte einmal mehr zu den Nutznießern: Ein Sturz des Baath-Regimes würde bedeuten, dass er einen wichtigen Verbündeten in der Region und seinen direkten Zugang zur schiitischen Hisbollah im Libanon verlöre.
Das strategische Bündnis zwischen der PKK, Syrien und dem Iran ist bislang höchst wirksam. Die PYD unterdrückt erfolgreich regimekritische Demonstrationen – insbesondere in ihrer traditionellen Hochburg Afrin. Die Brutalität, mit der sie dabei vorgeht, erinnert fatal an die Politik der PKK in den 1980er Jahren. Regimekritiker und Konkurrenten – immer wieder auch Mitglieder des Kurdischen Nationalrats – werden systematisch bedroht, entführt, gefoltert und ermordet. Im Gegenzug hat Assads Regime zugelassen, dass die PYD Kulturzentren und Sprachschulen eröffnet, „Wahlen“ durchführt und „Gerichte“ etabliert. Sie darf bewaffnete Kämpfer ins Land holen, Straßen- und Grenzkontrollen einrichten, und diverse „Steuern“, etwa auf Benzin und Diesel oder den Grenzübertritt, einziehen. Syrisch-Kurdistan wird derzeit von der PYD regelrecht finanziell ausgepresst. Zudem kontrolliert die PYD mit Billigung des syrischen Regimes in einigen kurdischen Regionen Bereiche wie Elektrizitäts– und Wasserwerke sowie ländlische Gesundheitsstationen.
Konnte die PYD vor der Revolution in der Stadt Al-Qamischli bestenfalls einige hundert Demonstranten mobilisieren, sind es heute bis zu Zehntausend. Ihre Kontrolle über die kurdischen Regionen Syriens bedeutet, dass diese als Rückzugsgebiet für türkische PKK-Kämpfer und als Ort für die Anwerbung neuer Mitglieder genutzt werden können. Tatsächlich wurden bereits erste Militärlager errichtet.
Dies hat vor allem Folgen für die Türkei. Deren von der sunnitischen AKP (Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt) geführte Regierung hat sich bereits im Sommer 2011 auf die Seite der syrischen Opposition gestellt und so Damaskus gegen sich aufgebracht. Wie schon zuvor sein Vater, Präsident Hafiz al-Assad, sieht Präsident Assad die PKK/PYK auch als Druckmittel gegen die Türkei.
Seit PKK-Führer Abdullah Öcalan 1998 aus seinem Exil in Syrien ausgewiesen und dann in der Türkei inhaftiert wurde, ist zunehmend unklar, für welche Ziele – abgesehen von Öcalans Freilassung – die PKK steht. Die heftigen militärischen Auseinandersetzungen, die sie sich im September 2012 mit der türkischen Armee in der Provinz Hakkari geliefert hat, haben weniger mit der politischen Situation in der Türkei als vielmehr mit dem Konflikt in Syrien zu tun. Experten gehen davon aus, dass der Iran auch Waffen für den Kampf in der Türkei zur Verfügung gestellt hat und die PKK nun deren effektiven Einsatz beweisen muss. Die Erschütterung Syriens hat so auch zu einer Verschärfung des Konflikts zwischen der PKK und der türkischen Regierung beigetragen, der die Hardliner auf beiden Seiten stärkt und unter dem vor allem die Zivilbevölkerung leidet.
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Die AKP-Regierung kann es sich weder politisch noch militärisch leisten, dass die PYD/PKK sich dauerhaft in Syrien festsetzt und von dort Angriffe auf das Nachbarland organisiert. Gleichzeitig liegt es nicht in ihrem Interesse, den Konflikt militärisch zu lösen: Die Eröffnung eines weiteren Kampfschauplatzes würde vor allem der syrischen Regierung dienen, die, zumindest zeitweise, nicht mehr allein im Fokus internationaler Kritik stünde. Darüber hinaus würde eine Intervention der türkischen Armee in Syrien die dortige Bevölkerung eher enger an die PKK/PYD binden. Selbst Gegner der PYD/PKK zögern nicht nur aus Furcht, diese offen zu kritisieren, sondern auch, weil sie einen „Bruderkrieg“ zwischen kurdischen Fraktionen verhindern wollen. Die PKK ihrerseits spielt mit der türkischen Gefahr: Wann immer Militär an der Grenze aufmarschiert, hält sie sich zurück, um erneut zu provozieren, sobald sich die Situation entspannt.
Mit der PKK ist kein tragfähiger Kompromiss zu schließen
Den Deal zwischen dem Iran, Syrien und der PKK hat vermutlich Dschalal Talabani eingefädelt. Sein langjähriger Gegenspieler Masud Barzani, der Präsident der Regionalregierung Kurdistans im Irak und Vorsitzender der KDP, bemüht sich hingegen um eine Versöhnung der verschiedenen kurdischen Gruppen in Syrien. Für den 11. Juni sowie den 1. Juli 2012 lud er den Kurdischen Nationalrat und den Volksrat von Westkurdistan – ein PKK-Gremium für Syrisch-Kurdistan, in dem auch die PYD vertreten ist – nach Arbil ein, um zu vermitteln. Mittlerweile ist ein „Hohes Kurdisches Gremium“ gebildet worden, das je zur Hälfte mit Vertretern beider Seiten besetzt ist und gemeinsam die politischen Geschicke der syrischen Kurden lenken soll. Zu einer wirksamen Kooperation hat dies nicht geführt: Die Volksschutzkomitees der PYD sind noch immer die einzige bewaffnete Gruppierung in den syrisch-kurdischen Gebieten, nach wie vor werden andersdenkende Aktivisten und Politiker entführt und getötet, nach wie vor teilt die PYD nur dort die Macht, wo sie wegen lokaler Umstände dazu gezwungen ist.
Masud Barzani weiß aus eigener Erfahrung, dass mit einer totalitären Organisation wie der PKK, die an ihrem Alleinvertretungsanspruch festhält, keine tragfähigen Kompromisse zu schließen sind. Wenn er dennoch versucht zu vermitteln, dann zum einen, um den Gestaltungsanspruch der KDP in der Region zu unterstreichen. Dem entspricht auch, dass in ihrem Hoheitsgebiet mehrere Hundert kurdische Deserteure aus der syrischen Armee militärisch ausgebildet worden sind und zahlreiche syrisch-kurdischen Oppositionsführer seit vielen Monaten in Arbil Asyl erhalten, inklusive großzügiger Kost und Logis. Gleichzeitig dürfte seine Initiative der Türkei geschuldet sein. Die türkische Regierung kann selbst nicht mit der PYD verhandeln, aber eine Deeskalation, wie sie Barzani vorschwebt, läge in ihrem Interesse. Wie eng das Verhältnis zwischen Barzani und der Türkei ist, wurde nicht zuletzt an seiner Einladung zum Parteitag der AKP am 30. September 2012 deutlich. Der kurdische Präsident lobte dort die Haltung der Türkei im Syrienkonflikt und erhielt für seine in kurdischer Sprache gehaltene Rede teils stehende Ovationen.
Wie sehen die Perspektiven der syrisch-kurdischen Gebiete nach einem Sturz des Assad-Regimes aus? Unwahrscheinlich ist, dass sich eine Entwicklung ähnlich wie im Irak ergibt, wo die Kurden als Teil eines föderalen Irak quasi eigenstaatliche Strukturen aufgebaut haben. Das würde weder vom arabischen Teil der syrischen Opposition noch von den Regionalmächten noch international unterstützt. Auch die PKK hat keine Ambitionen, eine solche Autonomie voranzutreiben. Realistisch ist ein anderes Szenario: Wenn es den syrisch-kurdischen Parteien nicht gelingt, mit Hilfe der KDP, der türkischen Regierung und gegebenenfalls der Freien Syrischen Armee eine wirksame Strategie zur Eindämmung der PYD/PKK zu entwickeln, wird diese auch nach einem Sturz des Regimes die Oberhand in den kurdischen Gebieten behalten. Die syrischen Kurden werden die Baath-Diktatur gegen die PKK-Diktatur tauschen – kein guter Tausch, wie ein hohes Mitglied des Kurdischen Nationalrats bereits vor einigen Monaten eingestand: „Wenn wir sehen, wie die PYD vorgeht, dann vermissen wir schon heute die Baath-Partei.“
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