Löcher im Stromnetz

Indiens Infrastruktur ist marode und behindert das Wirtschaftswachstum. Korruption und Bürokratismus sorgen dafür, dass es mit dem Ausbau von Energieversorgung und Straßen nur langsam vorangeht. Streitigkeiten um Land schrecken ausländische Investoren ab. Ein großflächiger Stromausfall im Sommer hat die Regierung nun zu Reformen bewegt.
Hier unten röhren die Motoren. Aus den Lautsprechern in der Decke dröhnt die Musik des französischen Pianisten Richard Clayderman. Mittendrin steht V. Muthukrishnan und erklärt das Wunder zwischen Kudimiyandithoppu und Kizputtupattu. Es besteht aus Asphalt, ist 113 Kilometer lang und  eine der ersten Privatautobahnen Indiens. Muthukrishnan räumt, dem elefantenköpfigen Gott Ganesha gleich, die Schwierigkeiten aus dem Weg, bringt Ordnung ins Chaos. Und Clayderman? Der hilft ihm dabei.
 
„Wir spielen die Musik, damit die Leute sich entspannen. Viele sind sauer, weil sie bezahlen sollen“, sagt Muthukrishnan, der Projektleiter der Autobahn südlich von Chennai (Madras) im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu. „Wir müssen die Menschen dazu erziehen, dass das Befahren der Strecke Geld kostet.“ Die Autobahn wurde in Indien zum Symbol: Dafür, dass auch ein Schwellenland seine Infrastruktur auf Vordermann bringen kann, dafür, dass Privatinvestoren dabei helfen können, aber auch dafür, dass es ein mühsamer Erziehungsprozess ist, mehr Geld für eine bessere Infrastruktur zu zahlen. Die Vorzeigeprojekte sind in Indien selten – zu selten. „Der Bau von Straßen ist der größte Schwindel des Landes. Nicht mehr als die Hälfte der zugesagten Gelder werden wirklich für den Straßenbau ausgegeben“, sagte der indische Finanzminister Palaniappan Chidambaram, als er noch für die Infrastruktur zuständig war.
 
Der geplante Bau von 36.000 Kilometern Straße bis 2014 wird eine Illusion bleiben. Genauso wie die Ankündigung, die Leistung der Kernkraftwerke in Indien von heute 4,7 auf rund 63 Gigawatt im Jahr 2032 auszubauen. Zumal 40 Gigawatt davon dank der Zusammenarbeit mit internationalen Konzernen entstehen sollen. Seit 1951 hat Indien noch jedes selbstgesteckte Ziel bei der Stromproduktion verpasst. Nun sucht das Land 400 Milliarden US-Dollar für den Ausbau von Kraftwerken und Netzen allein bis 2017 – und wird sie nicht finden.

Autor

Dr. Christoph Hein

ist Wirtschaftskorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Südasien/Pazifik. Er lebt seit 13 Jahren in Singapur.
Laut Schätzungen gehen 60 Prozent der Stromproduktion auf dem Weg von Kraftwerk zu Abnehmer verloren. Ein großer Teil wird schwarz abgezapft. Ein Drittel der Lebensmittel verrottet zwischen Bauer oder Fischer und dem Käufer auf dem Markt – weil es keine Kühllaster gibt, weil die Warteschlangen an den Landesgrenzen zu lang sind, weil Polizisten und Grenzbeamte Bestechungsgelder verlangen. Sauberes Wasser ist Mangelware. Vor den Häfen liegen die Schiffe auf Reede, weil an den Kais zu wenig Platz ist, die Hafeneinfahrten versanden, schweres Gerät fehlt. Die indische Infrastruktur ist ein Alptraum. Sie hindert das Land daran, so zu wachsen, wie es könnte.
 
Die Ursache der Misere reichen tief. Bestechung – ein durchschnittlicher indischer Haushalt dürfte etwa 30 Prozent seines Nettoeinkommens für Korruption ausgeben – und Bürokratismus liegen an den Wurzeln. Sie sprießen auf dem Boden mangelnder Investitionsgesetze, einer unberechenbaren Justiz, überbordender Subventionen, die das Haushaltsdefizit auf bald 6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes treiben, und einer Steuerquote, die nicht nur die großen Zahler des Landes feiern lässt, weil sie so niedrig ist. Die Verschleppung von Projekten lässt Kosten explodieren, Kredite können nicht bedient werden. 
 
Anil Ambani, der Chef des Stromkonzerns Reliance Power, warnte kürzlich vor „unserer Version der US-Hypothekenkrise“: In den Büchern der Banken schlummerten viele potenziell faule Kredite überschuldeter Stromerzeuger, die ihrerseits unter der mangelnden Zahlungsmoral bankrotter staatliche Netzbetreiber leiden. Projekte weisen keine verlässliche – und oft zugesagte – Rendite aus. Investoren aus dem Ausland fühlen sich unter diesen Bedingungen nicht wohl. Im zweiten Quartal dieses Jahres gingen die ausländischen Direktinvestitionen um fast 70 Prozent zurück. Auch Partnerschaften zwischen Staat und privaten Geldgebern (Public Private Parterships – PPP) greifen in Indien kaum.
 

Es wird zu wenig Kohle abgebaut, weil sich das nicht lohnt
 

Zudem ist Indien geografisch wesentlich zersplitterter als etwa China mit seiner „Goldküste“: Zwei Drittel der Inder, rund 900 Millionen Menschen, leben in 650.000 Dörfern. Denen eine akzeptable Infrastruktur zu verschaffen, ist fast unmöglich. Für den zwölften Fünfjahresplan hat die Regierung Kosten für deren Ausbau in Höhe von tausend Milliarden Dollar angesetzt, private Investoren sollen die Hälfte davon aufbringen – ein unerfüllbarer Traum. Das bleibt er auch dann, wenn die indische Regierung ihren Plan für einen milliardenschweren Infrastrukturfonds verwirklicht.
 
Beispiel Strom: Viele Inder sind daran gewöhnt, ohne Strom auskommen zu müssen. Auch ausländische Fabriken von BMW bis Hyundai in Chennai oder Pune lassen sonntags oder nachts arbeiten, um die Netze in der Woche nicht zu überlasten. Dennoch war es ein Weckruf, als Ende Juli schlagartig 600 Millionen Inder ohne Strom dasaßen. Der größte Stromausfall in Indiens Geschichte sorgte im Land selbst für Aufregung, vor allem aber im Ausland. Schlagartig wurden die Versäumnisse der Politiker deutlich: Kohle, der Grundstoff für die Stromerzeugung, wird in Indien viel zu wenig abgebaut, weil sich das bei den subventionierten Preisen für den Rohstoff selbst für Staatskonzerne nicht lohnt.
 
Der Import ist, oft im Kampf mit den Chinesen, teuer. Es gibt zu wenig Kraftwerke, auch weil Ausländer zwar gerne Turbinen verkaufen, den Betrieb eines Kraftwerkes in einem staatlich dominierten Sektor aber aus guten Gründen scheuen. Die Überlandleitungen sind überlastet. Und am Ende wird der Strom schwarz abgezapft. Dieselgeneratoren, die eine verlässliche Versorgung bieten, verpesten die Luft und brauchen den vom Staat hoch subventionierten Treibstoff auf.
 

Die Regierung leidet unter dem Ruf der Untätigkeit
 

Die mächtige Planungskommission Indiens kommt in ihrem Bericht zur Energiepolitik zu einem interessanten Urteil: Um die Armut auszuradieren müsse Indien in den nächsten 25 Jahren eine Wachstumsrate von acht bis zehn Prozent jährlich halten. Die Versorgung mit Primärenergie müsse mindestens verdreifacht, die Stromerzeugung auf das Fünf- oder Sechsfache des Niveaus von 2004 hochgefahren werden. Das aber dürfte selbst mit Atomenergie nicht gelingen.
 
So setzte die plötzliche Dunkelheit auch die Regierung unter Druck. Sie leidet unter dem Ruf der Unentschlossenheit und Unfähigkeit, der 80-jährige Ministerpräsident Manmohan Singh, einst ein Reformer, muss sich als handlungsunfähig darstellen lassen. Das einzige, was aus Neu-Delhi landesweit wahrgenommen wird, sind die Lähmungen des Parlaments und riesige Bestechungs- und Schwarzgeldskandale wie „Coal-Gate“, die ungeklärte Vergabe von Lizenzen zum Abbau von Kohle im Wert von rund 34 Milliarden US-Dollar oder die Vergabe von Telekom-Lizenzen im Wert von 39 Milliarden Dollar 2008.
 
Selbst Manager, die seit langem in Indien arbeiten, stöhnen. Bis heute wartet das für 700 Millionen Dollar gebaute Volkswagenwerk vor den Toren der Industriestadt Pune auf die zugesagte Bahnanbindung. Der Handelskonzern Metro musste seine geplante Expansion begraben, weil es ihm nicht gelang, die passenden Ladenflächen zu bekommen. Und der Tata-Konzern sah sich gezwungen, eine fertige Fabrik in Westbengalen zu verlassen, weil Bauern mehr Entschädigung für ihr Land forderten und die Zufahrten blockierten.
 

Dem Flughafenmanager platzte der Kragen
 

Die Streitigkeiten um Land zählen zu den größten Risiken für Investoren. Oft sagt die Regierung eines Bundesstaates Land zu, entschädigt dann aber die Betroffenen aus deren Sicht zu gering. Also gehen sie auf die Straße. Der Investor aber hat sich auf die Vertragstreue verlassen – fälschlicherweise. Das erfuhr auch die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau, die stolz damit warb, den Bau des damals größten Solarkraftwerkes der Welt in Indien zu finanzieren. Nach der Zusage ging es monatelang nicht weiter, weil auch hier das Land umstritten war.
 
Ansgar Sickert, der ehemalige Indien-Chef des deutschen Flughafenbetreibers Fraport, ist einer der wenigen Manager, dem angesichts der politischen Zustände öffentlich der Kragen platzte: „Wir haben gemerkt, dass die Regierung kein Rückgrat und keinen Antrieb hat. Ich habe nicht mehr das geringste Vertrauen darein, dass etwas passiert. Erst nach der Wahl 2014 könnte es vorangehen – das heißt also nicht vor 2015. Solange aber kann und will ich hier nicht sitzen und warten“, sagte Sickert.
 
Dann packte er seine Sachen und Fraport verließ das Land. Gekommen waren die Frankfurter, um nach dem Flughafen Neu-Delhi weitere Regionalflughäfen zu bauen oder zu betreiben. 2008 hatte Indien die entsprechenden politischen Leitlinien verabschiedet. Doch statt der geplanten rund 50 Flughäfen wurde bislang nur ein einziger in Angriff genommen. „Ich glaube, das wirkliche Problem liegt darin, dass die Regierung blockiert von politischen Auseinandersetzungen ist, nicht getrieben von politischem Willen. Es werden keine Entscheidungen getroffen“, sagt Sickert.
 
Ende September hat sich das auf den ersten Blick schlagartig geändert. Unerwartet erklärte die Regierung, die hoch subventionierten und seit 14 Monaten eingefrorenen Treibstoffpreise für die Verbraucher anzuheben. Damit wird der Haushalt entlastet, gerade die indische Mittelschicht aber belastet. Zu Zeiten einer immer noch zweistelligen Inflationsrate bei den Preisen für Lebensmittel provoziert allein schon dieser Schritt zwangsläufig Wut auf die Politiker. Doch das war erst der Anfang: Ausländischen Supermarktketten wird nun erlaubt, die Mehrheit an Großmärkten in Indien zu besitzen. Das – so sehen es Millionen Inder – bedroht ihre „Mom and Pop Shops“, die Tante-Emma-Läden, und unzählige Arbeitsplätze. Tausende machten ihrer Empörung mit Demonstrationen Luft.
 

Proteste bremsen die Entwicklung des Landes
 

Ferner wurde der erlaubte Anteil ausländischer Investoren an indischen Fluggesellschaften und an Energiebörsen auf nun 49 Prozent heraufgesetzt. Sofort protestierten die Gewerkschaften gegen drohende Verluste von Arbeitsplätzen. Die Sorge der Beschäftigten ist verständlich, denn es gibt kein soziales Netz, das sie auffängt. Nachvollziehbar sind auch die Proteste von Kleinbauern, wenn ihr Land verkauft wird. Meist sind es nämlich nicht sie und ihre – unausgebildeten – Familienmitglieder, die später hier Arbeit finden. Dennoch bremsen die großflächigen Proteste die Entwicklung des Landes. 
 
Aus Sicht potentieller Investoren klingt manche Reform außerdem rosiger als sie ist. Beispiel Supermärkte: Die Ausländer dürfen nur in Städten mit mehr als einer Million Einwohner investieren, und das auch nur, wenn die jeweilige Landesregierung zustimmt. Mindestens 100 Millionen Dollar müssen sie mitbringen und die Hälfte davon bei den Erzeugern investieren. Die Rating-Agentur Fitch erklärte denn auch trocken: „Wir betrachten die Reformen als nicht tiefgreifend genug, um unseren negativen Ausblick auf die Ratings Indiens zu ändern.“
 
Die Regierung aber braucht Erfolge, um in das Vorwahljahr zu ziehen. Eine Wachstumsrate von 5,5 Prozent ist wenig, wenn 5 Prozent Wachstum allein gebraucht werden, um den Heranwachsenden Ausbildungsplätze anzubieten. Der Mangel an Wasser und Strom kostet Menschenleben und hält Millionen in Armut. Dass der Ausbau von Straßen, Häfen und Flughäfen nicht vorankommt, verärgert die Mittelschicht, verteuert Transporte und treibt damit die Inflationsrate. Subventionen, um das Volk ruhig zu halten, bieten angesichts eines wachsenden Haushaltsdefizits keinen Ausweg. Die Regierung sitzt in der Klemme und musste den Befreiungsschlag wagen. Ob er wirkt, werden die nächsten Monate zeigen.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2012: Die Wirtschaft entwickeln
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