Der hilflose Antikapitalismus

Transnationale Konzerne scheren sich häufig nicht um Recht und Gesetz. Umwelt- und Sozialstandards kommen erst ganz hinten, an erster Stelle steht der Profit. Wer das ändern will, sollte nicht nur mehr Transparenz und Selbstverpflichtungen fordern. Unternehmen müssen von demokratisch legitimierten Stellen kontrolliert und im Falle von Machtmissbrauch bestraft werden.

Eines der größten Probleme rechtsstaatlich-kapitalistischer Demokratien ist, dass sie zunehmend an Legitimation verlieren. Die Ursache dafür ist die inzwischen nicht mehr zu verschleiernde Unfähigkeit des „souveränen“ Nationalstaats, den während des Kalten Krieges aus machtstrategischen Gründen aufgegebenen „Primat der Politik“ über die Wirtschaft, insbesondere über transnationale Konzerne, wiederzugewinnen.

Das wäre dringend notwendig, um die Staaten in die Lage zu versetzen, die sozialen und ökologischen Krisen zu bekämpfen. Voraussetzung dafür wäre mehr Demokratie. Doch selbst die einigermaßen funktionierenden kapitalistischen Demokratien leiden aufgrund der Nähe der Regierungen zu den Herrschern in den demokratiefreien Chefetagen unter Vertrauensverlust. Zu wenige Wähler trauen den Regierenden noch zu, sich mit den Mächtigen der Wirtschaft auf einen Machtkampf einzulassen. Die Kritiker wiederum huldigen allenfalls einem hilflosen Antikapitalismus.

Autor

Hans See

ist Professor für Politikwissenschaft und Wirtschaftskriminologie sowie Gründer der Organisation Business Crime Control und der Vierteljahreszeitschrift BIG Business Crime.

Das Thema Wirtschaftsdemokratie – also die demokratische Kontrolle von Unternehmen, Banken und anderen Institutionen der Wirtschaft – ist im Zuge der europäischen Integration von der Agenda jener Parteien verschwunden, die sich nach 1945 dieses hehre Ziel noch auf ihre Fahnen geschrieben hatten und damit auch Wähler gewinnen konnten. Zu einer wie immer im Einzelnen ausgestalteten Wirtschaftsdemokratie gibt es angesichts der völlig außer Kontrolle geratenen Macht der Konzerne (von den Schattenbanken zu schweigen) keine Alternative. Da Unternehmensführungen nicht zur freien Wahl stehen, muss es den gewählten Volksvertretern, den Regierungen und der Justiz möglich sein, den Machtmissbrauch von Konzernen vorbeugend zu verhindern oder nachträglich zu bestrafen.

Unternehmen brechen Gesetze, sie erpressen und bestechen Politiker, Parlamentarier und Beamte – all das könnte durch eine stärkere demokratische Kontrolle bereits vor Investitions- und Produktionsentscheidungen, bei der notwendigen Kapitalbeschaffung, der Kapitalverwertung und schließlich bei der politischen Lobbyarbeit von Unternehmen verhindert werden. Denkbar wäre zum Beispiel eine Art kriminalpräventive Mitbestimmung, bei der sich die Aufsichtsratsmitglieder verpflichten, ungesetzliche Entscheidungen zu verhindern, falls nötig unter Einschaltung der Staatsanwaltschaft. Oder zivilgesellschaftliche Kapitalkontrollkommissionen, eine Art überparteilicher Aufsichtsräte für Unternehmen, die vor allem die mögliche Verletzung von Menschenrechten durch Konzerne beobachten, so wie Amnesty International die Politik der Staaten beobachtet.

Transnationale Unternehmen beschäftigen Spezialisten gegen Whistleblower und Datendiebe

Kapitalismuskritiker und katholische und protestantische Theologen haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten für eine neue Wirtschaftsethik geworben. Die Organisation Transparency International fordert seit Anfang der 1990er Jahre mit Unterstützung selbst korrupter Unternehmen mehr Transparenz. Beides hat sicher dazu beigetragen, die entpolitisierte Öffentlichkeit für die Probleme des Machtmissbrauchs in Wirtschaft und Politik zu sensibilisieren. Es hat jedoch zugleich davon abgelenkt, dass die Ethik international ausgerichteter Konzerne sich nicht nach nationalen oder bestimmten religiösen Normen richten kann. Ein transnationales Unternehmen ist ein multikulturelles und nur handlungsfähig, wenn es rechtsverbindliche Verträge zwischen Unternehmensführung und Standortstaaten in aller Welt schließt und dafür gesorgt ist, dass die Verträge auch eingehalten werden. Die an sich unschädliche Forderung, durch mehr Transparenz und Lobbyistenkontrolle Staat und Wirtschaft besser zu kontrollieren, zielt meist absichtlich an den Kernbereichen privater Wirtschaftsmacht vorbei: dem Eigentumsrecht sowie dem Betriebs- und Bankgeheimnis. Denn eine Konkurrenzwirtschaft wie die kapitalistische kann und darf Transparenz nur in engen Grenzen zulassen.

Aus diesem Grund beschäftigen transnationale Konzerne hochkarätige Spezialisten für Betriebsspionage und Spionageabwehr, die übrigens jederzeit auch gegen Belegschaftsmitglieder, Betriebsräte und Aufsichtsratsmitglieder des eigenen Konzerns eingesetzt werden. Oder gegen Whistleblower, die Unternehmensverbrechen verraten, und Datendiebe, die Bankgeheimnisse zum Geschäft machen. Betriebsspionage und ihre Abwehr wird aber keineswegs nur von Industriekonzernen, Banken, Versicherungen und unternehmenseigenen oder von Unternehmen gesponserten und für sie arbeitenden Forschungsinstituten betrieben. Auch die vielen Sicherheitsfirmen, die inzwischen sogar Privatarmeen und private Polizeikräfte an Staaten vermieten, spionieren für einheimische Unternehmen wichtige ausländische Konkurrenten aus, häufig in Zusammenarbeit mit staatlichen Geheimdiensten.

Sicherheitskonzerne haben die Normalbürger längst in „gläserne Bürger“ verwandelt

Das alles sind trotz Geheimhaltung bekannte, aber aus der Öffentlichkeit weitgehend verbannte Tatsachen. Sie werden auch von denjenigen oft nicht zur Kenntnis genommen, die von Unternehmen und der Politik ständig mehr Moral, mehr Transparenz, mehr Ehrlichkeit, Fairness und Ähnliches verlangen. Moralische Appelle sind nicht sinnlos, ebenso Forderungen nach Selbstverpflichtungen. Und mehr Transparenz würde viele Probleme lösen helfen. Zum Beispiel wenn das Kleingedruckte im Vertrag beim Großgedruckten stünde, wenn Kleinanleger erführen, ob sie einen Berater oder einen Verkäufer vor sich haben. Doch wer ignoriert, dass Kapital, Privateigentum, die Entscheidungen privater Kapitalanleger und professioneller Spekulanten und die Vergabe von Vertrauensposten keine Transparenz zulassen und dass Intransparenz für eine Privatwirtschaft konstitutiv, also auch strukturell und rechtlich abgesichert ist, der bleibt leider in Wunschdenken verhaftet.

Und wer nach immer mehr Transparenz ruft, sollte wissen, dass Marketingabteilungen transnationaler Konzerne möglicherweise längst über ihre Persönlichkeitsprofile verfügen und sie selbst zum transparenten Objekt der Zielgruppenwerbung gemacht haben. Der transparente Kunde, der transparente Arbeitnehmer oder Staatsbürger muss bedenken, dass Transparenzforderungen sich irgendwann gegen ihn selbst richten. Wenn sich seine wirtschaftlichen oder die politischen Verhältnisse ändern, kann das schädliche Folgen für sein privates und berufliches Leben haben.

Was der Staat nicht darf, haben Sicherheitskonzerne längst erledigt: Sie haben den Normalbürger, die Normalbürgerin, ganze Belegschaften, selbstverständlich auch kapitalismuskritische Demonstranten, in „gläserne Bürger“, „gläserne Kunden“ und „gläserne Feinde“ verwandelt. Mit Persönlichkeitsprofilen wird lukrativer Handel getrieben. Wie anders als durch demokratische Kontrollen wäre auch dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten?

 

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Man kann sich kaum vorstellen, wie der Autor für machbar hält, was er an Vorschlägen präsentiert. Er sieht richtig, Unternehmen brechen Gesetze, erpressen und bestechen. Er möchte, dass die Wähler bei Investitionsentscheidungen, bei Kapitalbeschaffung und -verwertung und bei der Lobbyarbeit ein Wörtchen mitreden. Dabei lässt er aussen vor, inwieweit die politischen Parteien zum Teil seit über hundert Jahren festgelegt sind auf Richtung und Ziele ihrer Arbeit. Deshalb spielen die Millionen Einzelinteressen bei den Wahlen keine Rolle, sondern nur was die Parteiprogramme vorgeben. Sicher ist auch richtig, wie wenig der Wähler inzwischen seinen Delegierten zutraut, einen Richtungswechsel herbeizuführen. Alle maßgeblichen Parteien verfolgen die gleichen längst fragwürdigen Ziele wie ständiges Wirtschaftswachstum, Verteilung von Steuergeldern und Erhalt der Machtstrukturen. Warum soll der Durchschnittsbürger Parteien wählen, die andauernd die Besitzenden überproportional bedienen? Warum soll er überhaupt wählen? Mir scheint viel naheliegender, dieser Form der Bürgerbeteiligung die Gefolgschaft total zu verweigern. Das heißt eben auch, die staatstragenden Parteien nicht mehr zu wählen. Das wird die Demokratie nicht in den Abgrund stürzen, sondern die waren Machtstrukturen wieder offenbaren. Wenn Systemgefährdendes am Horizont auftaucht, dann ergreifen mal wieder die beiden großen Parteien die Macht.
Es ist also mittelfristig, will heißen über Jahrzehnte, aussichtlos einen radikalen Wandel herbei zu wählen. Da die meisten Menschen nur ein Leben haben, sollten sie sich ihre Lebensziele genau überlegen. Kräftig an der Mehrung des BIP mitzuwirken, dürfte die dümmste Entscheidung sein. Die Mehrung des BIP macht nur die Reichen noch reicher und den staatlichen Wasserkopf noch größer. Wer bei klarem Verstand ist, sollte mal der Frage nachgehen, warum hierzulande trotz fortschreitender Automatisierung die Lebensarbeitszeiten wieder länger werden, warum die Sparer für ihr Geld Zinsen unterhalb der Geldentwertung bekommen, warum in diesen Zeiten der Verkauf und die Vermietung von Wohnraum ein so lukratives Geschäft ist und warum es erstrebenswert und möglich ist, daß ein Einzelner über 200 000 Wohnungen verfügen kann (Guy Hands). Es scheint doch unangebracht, bei dieser Ausgangslage über Wahlen mehr Moral, Transparenz Ehrlichkeit, Fairness und Gerechtigkeit herbeiführen zu wollen. Wer das für möglich hält, ist noch nicht aufgewacht oder will die Wirklichkeit nicht sehen.

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erschienen in Ausgabe 7 / 2012: Konzerne: Profit ohne Grenzen
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