Frau Auta, Sie waren Anfang April beim Global Disability Summit in Berlin dabei. Hat es sich gelohnt?
Ja, der Höhepunkt war die Verabschiedung der Amman-Berlin-Erklärung, die unter anderem von 25 Staaten Afrikas unterzeichnet wurde, darunter mein Heimatland Nigeria. Herzstück der Erklärung ist die „15-Prozent-für-15-Prozent“-Zusage: 15 Prozent aller staatlichen Entwicklungsinitiativen sollen künftig unmittelbar Menschen mit Behinderungen zugutekommen, die 15 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. In Nigeria gibt es ein Gesetz, nach dem fünf Prozent aller staatlichen Initiativen etwa in den Bereichen Bildung, Gesundheit oder Landwirtschaft sowie der Jobs in Privatunternehmen Menschen mit Behinderungen vorbehalten sein müssen. Wenn die Amman-Berlin-Erklärung umgesetzt wird, steigt diese Quote also um zehn Prozentpunkte.
Sind Sie zuversichtlich, dass die Erklärung verwirklicht wird?
In Nigeria haben wir eine Nationale Kommission für Menschen mit Behinderungen. Sie muss die Regierung in die Verantwortung nehmen, 15 Prozent für 15 Prozent umzusetzen. Zusätzlich braucht es Informations- und Advocacy-Arbeit, um die Amman-Berlin-Erklärung bekannt zu machen. Wenn wir uns nur zurücklehnen und der Regierung vertrauen, dann werden wir nicht weit kommen.
Die deutsche Bundesregierung und die Afrikanische Union haben anlässlich des Gipfels in Berlin vereinbart, Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen stärker zu unterstützen. Was versprechen Sie sich davon?
Das ist wichtig, weil es die Möglichkeiten unserer Organisationen steigern wird – vor allem für Frauen mit Behinderungen, die besonders benachteiligt sind. Unsere Organisationen müssen in die Lage versetzt werden, die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in Afrika voranzubringen. Zugleich sind Gremien auf politischer Ebene nötig, die darauf achten, dass solche Abkommen wie das zwischen Deutschland und der Afrikanischen Union eingehalten werden. Es braucht Budgets auf lokaler, nationaler und globaler Ebene, in denen Inklusion fest verankert ist.
Seit einiger Zeit kürzen wichtige Geberländer wie die USA oder Deutschland aber ihre Budgets für Entwicklungszusammenarbeit. Macht sich das bereits bemerkbar?
Ja, in Organisationen von Menschen mit Behinderungen in Nigeria haben bereits Leute Jobs verloren oder mussten Büros geschlossen werden. Wir müssen neue Wege probieren, und ich bin sehr dafür, dass wir stärker auf den Privatsektor zugehen. Das Ziel muss sein, Menschen mit Behinderungen in Jobs zu bringen und sie in die Lage zu versetzen, für sich selbst zu sorgen. Sie sollten nicht nur von Gebern abhängig sein. In Nigeria gibt es einige sehr wohlhabende Unternehmer, die etwa Initiativen für Frauen oder junge Menschen unterstützen. Auf die müssen wir zugehen und sie motivieren, Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen stärker zu unterstützen. Mir geht es hier nicht nur um Philanthropie, sondern darum, wirtschaftliche Möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen zu schaffen.
Tun afrikanische Regierungen genug für Inklusion, und gibt es diesbezüglich Unterschiede zwischen afrikanischen Staaten?
Um die Wahrheit zu sagen, afrikanische Regierungen machen keine gute Figur bei der Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Sie erkennen unsere Bedürfnisse, etwa nach Bildung oder guter Gesundheitsversorgung, einfach nicht an. Ein Vorbild in dieser Hinsicht ist nur Südafrika. Dort gibt es ein Gesetz für Inklusion, und an den Bürgersteigen gibt es sogar Rampen für Rollstuhlfahrerinnen wie mich. Wenn ich reise und wieder nach Hause komme und in Nigeria am Flughafen stehe, muss ich weinen, weil die Dinge bei uns derart schlecht stehen. Und das gilt für die meisten Länder in Afrika.
Was läuft schief?
Menschen mit Behinderungen werden einfach abgeschoben, in Heime zum Beispiel, und sich selbst überlassen. Dabei hat die Weltbank festgestellt, dass es der Wirtschaft eines Landes einen großen Schub gibt, wenn die Inklusion von Menschen mit Behinderungen verwirklicht wird. Wir schaden uns also selbst, wenn sie ausgeschlossen bleiben. Ein anderes Problem ist, dass Inklusion nur als Wohltätigkeit gesehen wird, nicht aber als Menschenrecht. Die Regierung verteilt Rollstühle, Lebensmittel und Kleidung. Aber warum erhebt sie keine Daten zum Bildungsstand und zu Qualifikationen von Menschen mit Behinderungen, stellt Kontakte zu Unternehmen her und unterstützt sie so, Jobs zu finden?
Sie haben selbst versucht, sich in Nigeria als Politikerin zu engagieren. Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht?
Laut nigerianischem Gesetz haben Bürgerinnen und Bürger mit Behinderungen das Recht, sich politisch zu beteiligen. 2019 habe ich für die nigerianische Nationalversammlung und 2023 für das Parlament des Bundesstaates Kaduna kandidiert. In beiden Fällen bin ich auf unüberwindbare Hürden gestoßen, die auch, aber nicht nur mit meiner Behinderung zu tun hatten. Andere Faktoren waren meine ethnische Herkunft, die Religion und die Tatsache, dass ich eine Frau bin. Bei den Parlamentswahlen 2019 war ich von mehr als 4000 Kandidatinnen und Kandidaten die einzige Frau mit Behinderung. Das hat andere junge Leute und Frauen mit Behinderungen inspiriert, es mir gleichzutun. Dennoch: In den nigerianischen Parlamenten gibt es nicht eine einzige Person mit Behinderung und kaum Frauen. Im nigerianischen Senat mit gut 100 Mitgliedern sitzen nur vier Frauen, im Repräsentantenhaus sind es nur 16 Frauen von 360 Abgeordneten. Das ist erbärmlich wenig. Ich appelliere an die politischen Parteien, dass sie für ihre Kandidaten Quoten für Menschen mit Behinderungen und für Frauen einführen, um das zu ändern. Wir sind schlau genug, wir haben die Kompetenzen und die Kapazitäten, um Wahlen zu gewinnen. Aber bislang haben wir keine Gelegenheit, das zu beweisen.
Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.
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