Keine Inklusion auf Kosten von Frauen

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Herausgeberkolumne
Staatliche Sozialsysteme sind nicht nur für Menschen mit Behinderungen ein Schlüssel zur gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft. Sie sind es auch für – meist weibliche – Familienmitglieder, die unbezahlte Sorgearbeit leisten, anstatt zur Schule zu gehen oder erwerbstätig zu sein.

Dr. Rainer Brockhaus ist Vorstand der Christoffel-Blindenmission.

Inklusion und Teilhabe führen nicht selten zu Konflikten, die ich als Vorstand einer Entwicklungsorganisation für Menschen mit Behinderungen kenne. So zum Beispiel bei einem Planungstreffen in Westafrika für ein neues CBM-gefördertes Projekt. Der Vertreter einer nationalen Selbsthilfeorganisation wollte seine Tochter als Assistenz mitbringen. Die junge Frau sollte aber eigentlich in der Schule sitzen und nicht ihren Vater begleiten, um ihm Teilhabe zu ermöglichen.

Das Szenario ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen für die Tochter, weil sie – womöglich an kulturelle Normen gebunden – ihr Recht auf Bildung nicht wahrnehmen kann. Zum anderen für den Mann mit Behinderungen wegen der Abhängigkeit von seiner Tochter.

Familienmitglieder sehen sich weltweit gezwungen, unentgeltlich Hilfe für Menschen mit Behinderungen zu leisten. In 75 Prozent der Fälle sind dies Mädchen und Frauen. Häufig können sie deshalb nicht zur Schule gehen oder arbeiten. Regierungen profitieren nur vermeintlich von der unbezahlten Arbeit. Zwar sparen sie auf diese Weise hohe Investitionen in staatliche soziale Dienste. Untersuchungen der Weltbank belegen aber, dass unbezahlte Pflege dem Bruttoinlandsprodukt eines Landes schadet. In Bangladesch beträgt der jährliche gesamtwirtschaftliche Einkommensverlust durch solche Betreuungstätigkeiten rund 234 Millionen US-Dollar. Der Staat verliert, weil arbeitsfähige Menschen nicht arbeiten können, kein Geld verdienen und keine Steuern zahlen.

Menschen mit Behinderungen sind wiederum dringend auf diese oft unbezahlte Pflege oder Assistenz angewiesen. Sie ermöglicht ihnen Teilhabe und ein Leben in Würde. Menschen mit Behinderungen machen laut Weltgesundheitsorganisation 16 Prozent der Weltbevölkerung aus. Sie sind seltener erwerbstätig als Menschen ohne Behinderungen – Frauen noch seltener als Männer. Wenn sie arbeiten, verdienen sie weniger als Menschen ohne Behinderungen. Sie leben häufiger in armen Haushalten und sind seltener in der Lage, finanzielle Engpässe zu überbrücken. Gleichzeitig ist ihr Leben teurer, egal ob sie arbeiten oder nicht. So müssen Rollstuhl-Nutzer zum Beispiel mehr für Transport bezahlen, weil sie vielleicht ein Taxi brauchen, wenn es keine barrierefreien Busse gibt.

Abhängigkeit aufheben 

Die Lösung für beide Probleme ist vor allem auch in ärmeren Ländern ein inklusives staatliches Sozialsystem. Es kann Helfende und Hilfesuchende gleichermaßen aus ihrer Abhängigkeit befreien und ihnen höhere gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Doch nur wenige Menschen mit Behinderungen im globalen Süden bekommen staatliche Unterstützung für Pflege, Assistenz oder behinderungsbedingten Mehraufwand zum Beispiel für Hilfsmittel.

Um auf den eingangs erwähnten Mann und seine Tochter zurückzukommen: Als CBM setzen wir uns für inklusive Gesellschaften ein. Deshalb möchten wir natürlich sicherstellen, dass die Tochter zur Schule gehen und der Vater trotzdem am Planungstreffen teilnehmen kann. Das mag gelingen, indem wir ein barrierefreies Umfeld bei dem Workshop schaffen, dem Kollegen helfen, soweit wir es können, und ein Budget bereithalten, das eventuelle Mehrkosten trägt, wenn nötig auch für eine professionelle Assistenz. Aber dadurch verschiebt sich die Abhängigkeit des Mannes nur von seiner Familie auf die CBM. 

Um diese Abhängigkeit aufzuheben, benötigt es auf dem Weg zu immer inklusiveren Gesellschaften andere, dauerhafte Lösungen. Deshalb müssen alle, die mit und für Menschen arbeiten, zusammen mit den Betroffenen dafür kämpfen, dass die Staaten ihre Verantwortung wahrnehmen. Denn nur mit inklusiven staatlichen Systemen zur sozialen Sicherung können dauerhaft die Töchter zur Schule gehen, die Frauen arbeiten und die Familien – auch mit Hilfe ihrer behinderten Mitglieder – der Armutsfalle entkommen. 

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erschienen in Ausgabe 4 / 2024: Zurück zu den Wurzeln?
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