Saudi-Arabien galt lange Zeit als Inbegriff von Rückständigkeit und Frauenfeindlichkeit. Jetzt krempelt Kronprinz Mohammed bin Salman, der de facto anstelle seines Vaters Salman die Macht ausübt, das konservative Land um. In seiner „Vision 2030“ hat Mohammed bin Salman, von allen nur MBS genannt, im Jahr 2016 skizziert, welche Zukunft er für sein Land anstrebt. Seine Vorstellungen sind vor allem davon geprägt, Saudi-Arabien in die postfossile Zukunft zu führen. Bis zum Jahr 2030 soll die Wirtschaft diversifiziert und ihre Abhängigkeit von Öleinnahmen deutlich reduziert werden. Vor allem für junge Saudis sollen mehr Arbeitsplätze entstehen. Außerdem will MBS das Bildungssystem verbessern, damit saudische Arbeitnehmer besser qualifiziert sind für die ehrgeizigen Pläne.
Gleichzeitig hat MBS das Land für Touristen geöffnet. 2019 wurden die ersten Touristenvisa erteilt. Im ersten Halbjahr 2023 kamen mehr als 14 Millionen Touristen nach Saudi-Arabien, 2024 waren es bereits 30 Millionen vor allem aus China, gefolgt von europäischen Ländern. Seit einigen Jahren sind Kinos zugelassen und Kulturveranstaltungen erlaubt, die zuvor verboten waren.
Zu den Prioritäten der „Vision 2030“ gehört auch die Förderung von Frauen. Das hat weniger damit zu tun, dass MBS den Frauen mehr Rechte geben will, als mit dem angestrebten Umbau der Wirtschaft. Denn es wäre unökonomisch, die Hälfte der Bevölkerung nicht arbeiten zu lassen, zumal das Bildungsniveau unter den saudischen Frauen hoch ist. Viele haben einen Gymnasial- und Hochschulabschluss, häufig haben sie auch von Stipendienprogrammen profitiert und ihre Studien in den USA oder Großbritannien absolviert. 1970 öffnete die erste Hochschule Saudi-Arabiens für Frauen ihre Türen, im Jahr 2020 haben Frauen die Männer überholt: Erstmals waren mehr Studentinnen als Studenten an einer Universität eingeschrieben.
Die Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit hat MBS abgeschafft
Für Saudi-Arabien bedeuten diese Veränderungen eine kleine gesellschaftliche Revolution. MBS hat eine ganze Reihe von Reformen erlassen, die das Leben von Frauen im Königreich einschneidend verändern. Über den Widerstand konservativer Islamgelehrter hat sich MBS dabei hinweggesetzt. Vor 2016 war Saudi-Arabien von einer strikten Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum geprägt, die die Religionspolizei überwachte. Diese Trennung hat der Kronprinz abgeschafft, Männer und Frauen dürfen gemeinsam arbeiten oder ins Restaurant gehen. Frauen sind nicht mehr verpflichtet, eine schwarze Abaya zu tragen, eine Art Überkleid, das auch den Kopf bedeckt. Sie sollten sich dezent und respektvoll kleiden; was das jedoch konkret bedeute, sei ihnen selbst überlassen, sagte MBS in einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender CBS 2018. Er hat auch die Religionspolizei entmachtet.
Seit 2017 dürfen saudische Frauen Auto fahren, und es werden Lizenzen für Frauen-Fitnessstudios vergeben. Zuvor hatten die konservativen Gelehrten solches Workout für Frauen für „unschicklich“ erklärt. Auch Yoga darf neuerdings öffentlich unterrichtet werden. Beides gehört mit zur „Vision 2030“, die auch zum Ziel hat, die saudische Bevölkerung zu mehr Bewegung und einem gesünderen Lebensstil zu animieren, denn Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck sind weit verbreitet.
Eine Frau darf ohne Zustimmung ihres Mannes einen Job annehmen
Um Frauen die Berufstätigkeit zu erleichtern, hat MBS das saudische Familienrecht im Jahr 2022 teilweise reformiert und erstmals schriftlich niederlegen lassen. Wie in fast allen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas – außer in Tunesien und Marokko – werden erwachsene Frauen im Familienrecht wie Minderjährige behandelt: Sie brauchen einen Vormund, der wichtige Belange für sie regelt, und sind ihren Ehemännern „in einem vernünftigen Ausmaß“ zum Gehorsam verpflichtet. Einige Bestimmungen zur männlichen Vormundschaft wurden gelockert. Grundsätzlich angetastet wurde das System der Vormundschaft dadurch nicht; Frauen sind ihrem Ehemann immer noch zum Gehorsam verpflichtet. So dürfen saudische Frauen nun ohne Zustimmung ihres Ehemanns einen Job annehmen, ein Unternehmen gründen, einen Pass beantragen und ins Ausland reisen – aber auch da kann der Mann noch dazwischen grätschen: Eine Frau darf zwar ohne seine Zustimmung den Pass beantragen, doch der Mann kann ihre Ausreise gerichtlich stoppen, wenn er dieser nicht zustimmt.
Der Anteil berufstätiger Frauen soll laut der „Vision 2030“ bis 2030 auf 30 Prozent steigen. Tatsächlich wurde dieses Ziel nach Zahlen der saudischen Statistikbehörde bereits 2024 übertroffen. 2017 waren erst 17 Prozent der volljährigen saudischen Frauen berufstätig oder als arbeitssuchend gemeldet; bis 2024 hat sich der Anteil mehr als verdoppelt und liegt derzeit bei mehr als 35 Prozent. Im weltweiten Durchschnitt sind rund 40 Prozent der Frauen berufstätig, in arabischen Ländern zwischen 20 und 25 Prozent.
Gleichzeitig werden Frauen ermutigt, eigene Unternehmen oder Start-ups zu gründen. Die Zahl der Unternehmerinnen ist in den letzten zehn Jahren um 35 Prozent gestiegen. Zuschüsse zur Kinderbetreuung sollen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern, für die Transportkosten an den Arbeitsplatz gibt es ebenfalls eine staatliche Förderung.
Die politische Teilhabe von Frauen ist sehr begrenzt
Vor der „Vision 2030“ gab es Beschränkungen beim Zugang zu Berufen für saudische Frauen. Jobs in der Industrieproduktion, die als zu gefährlich galten, waren ihnen nicht erlaubt. Diese Beschränkungen wurden aufgehoben, heute sind alle Berufe für Männer und Frauen gleichermaßen zugelassen. Tendenziell sind saudische Frauen jedoch eher im Bildungs- und Gesundheitsbereich tätig. Denn bis 2016 wurde stets betont, dass sorgende Tätigkeiten der Rolle von Frauen in der Gesellschaft mehr entsprechen würden. In den Führungsetagen von Banken und Ölindustrie gibt es erst wenige Frauen.
Frauen sind auch in ihrer Freizeitgestaltung nicht mehr so eingeschränkt wie früher. Trotzdem sollte das niemand mit mehr Bürgerrechten und politischer Teilhabe verwechseln. Denn die Reformen sind begleitet von scharfer Repression. Für Aktivistinnen gibt es keinen Raum, sich politisch zu äußern oder öffentliche Diskussionen über Genderfragen zu führen. Die politische Teilhabe von Frauen ist sehr begrenzt. Im Shura Council, einem Gremium mit ausschließlich beratender Funktion für MBS und die Regierung, haben Frauen 30 von 150 Sitzen.
Saudi-Arabien ist ein Beispiel für autoritären Staatsfeminismus, wie es ihn bereits in Tunesien, Ägypten und im Irak in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit gegeben hat. Autoritäre Machthaber haben rechtliche Verbesserungen für Frauen verordnet, während gleichzeitig Frauenrechtsaktivistinnen hart eingeschränkt wurden. Nirgendwo allerdings war dieser Staatsfeminismus derart repressiv wie heute im Reich von Mohammed bin Salman.
MBS hat wahhabitische Gelehrte kaltgestellt
Das hat damit zu tun, dass die Reformen für den Kronprinzen auch ein erhebliches politisches Risiko bedeuten. Denn mit ihnen ist eine Säule seiner politischen Legitimität weggebrochen: Die wahhabitischen Islamgelehrten waren zuvor eng mit dem Herrscherhaus verbunden und verliehen ihm religiöse Legitimität. Diese Gelehrten, die für eine besonders rigide Ordnung im Namen des Islam standen, hat MBS kaltgestellt. Einige stehen unter Hausarrest, einige sind im Gefängnis, die anderen schweigen aus Angst vor Repression. 2021 bezeichnete der Kronprinz in einer Fernsehansprache die ultra-konservative Interpretation des Islam als überholt. MBS braucht für seine Politik der Modernisierung einen Islam, der flexibler ist und ihm nicht im Weg steht. Der Name von Abdel Wahhab, dem Begründer des Wahhabismus, wurde aus Schulbüchern entfernt, wahhabitische Einrichtungen im In- und Ausland werden nicht mehr finanziell gefördert.
„MBS hat das politische System des Landes umdefiniert“, sagt Kristin Smith Diwan, Saudi-Arabien-Expertin beim Arab Gulf States Institute in Washington D.C.. „Heute steht weniger der wahhabitische Islam als ein saudischer Nationalismus im Vordergrund.“ Alle Modernisierung soll nach dem Willen von MBS von oben passieren und darf in keinem Fall Fragen etwa nach Bürgerrechten berühren. Wer weitergehende Reformen fordert, zum Beispiel eine komplette Abschaffung der männlichen Vormundschaft, und sei es nur in einem Tweet, landet umgehend im Gefängnis. Im Mai 2024 wurde die Aktivistin Manahal al-Utaibi zu elf Jahren Haft verurteilt, weil sie dieses öffentlich gefordert hatte. „Was die politische Arena betrifft, bin ich nicht optimistisch. Wer sich öffentlich äußert, muss sich hinter die Führung des Landes stellen, das wird sich auch wohl in Zukunft nicht ändern“, sagt Kristin Smith Diwan.
Frauen, die eigenes Geld verdienen, haben einen anderen Status
Die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten für Frauen werden die Geschlechterrollen im Königreich dennoch verändern. „Wenn Frauen einem Beruf nachgehen und dann über ein eigenes Einkommen verfügen, verändert das ihren Status grundlegend – auch in der Familie“, sagt die algerische Soziologin Fatma Oussedik. Sie hat diesen Wandel in einer Langzeitstudie von Familien in drei algerischen Großstädten untersucht und hält die Ergebnisse für übertragbar auf die gesamte arabische Welt. „Unsere Gesellschaften sind in einem starken Wandel begriffen“, sagt sie. Viele westliche Beobachter hielten arabische Gesellschaften für statisch, das stimme jedoch nicht. Seit einigen Jahrzehnten vollziehe sich ein Umbruch bei der Stellung der Frauen in der Gesellschaft.
Der wurde möglich, weil quer durch die Region der Zugang von Frauen zu Schulen und Hochschulen deutlich verbessert wurde. An den Universitäten machen sie heute häufig die besseren Abschlüsse als männliche Studenten. Beim Zugang zum Arbeitsmarkt bremsen zwar noch kulturelle Faktoren, das Fehlen von Kinderbetreuung, mangelhafter öffentlicher Transport und in vielen Ländern auch der ökonomische Niedergang die Frauen aus. Doch auch hier holen Frauen immer mehr auf.
Auch in Saudi-Arabien drängen Frauen vermehrt in den öffentlichen Raum. Künstlerinnen werden vom Staat gefördert. Mehr Frauen als Männer bauen im digitalaffinen Saudi-Arabien ein Tech-Start-Up auf. Und die wirtschaftlichen Möglichkeiten sind am Golf ungleich größer als in den krisengeschüttelten arabischen Ländern im Nahen Osten und in Nordafrika.
„Wenn Frauen ihr eigenes Geld verdienen, dann stärkt das ihre Stellung in Familie und Partnerschaft“, sagt Oussedik. Es verändert auch die Partnerwahl: arrangierte Ehen gehen im gesamten Nahen Osten zurück. Die Ansprüche von Frauen an Partnerschaft und Beziehungen wachsen, und wenn es ihnen nicht mehr passt, dann gehen sie: Die Scheidungsraten steigen zum Leidwesen Konservativer, insbesondere in den Golfstaaten. Nach Angaben der Nationalen Saudischen Statistikbehörde werden 37 Prozent der Ehen geschieden, mehr als die Hälfte dieser Scheidungen ereignet sich unter Neuverheirateten, also in den ersten beiden Jahren nach der Heirat. Und erfasst sind nur jene Ehen, die offiziell von einem Gericht geschieden wurden. Möglich wurden mehr Scheidungen nach Verbesserungen im Familienrecht: Auch in Saudi-Arabien sind seit 2018 sogenannte Khol-Scheidungen erlaubt, bei denen Frauen ohne Angabe von Gründen die Scheidung einreichen, wobei sie allerdings auf finanzielle Ansprüche verzichten müssen. Dass Frauen in Saudi-Arabien rechtlich bald Männern gleichgestellt werden, ist unwahrscheinlich. Aber die soziale und wirtschaftliche Realität höhlt frauenfeindliche Bestimmungen zunehmend aus.
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