„Europa kümmert sich nur um seinen Vorgarten“

Migration
Europa profitiert stark von Zuwanderung, auch aus Afrika. Statt Länder dort zur Rücknahme von Migranten zu drängen, sollte man unter anderem legale Zugangswege anbieten, sagt die sambische Entwicklungsökonomin Paddy Siyanga Knudsen.

Paddy Siyanga Knudsen ist Entwicklungsökonomin aus Sambia und lebt in Bonn. Sie arbeitet vor allem zu Entwicklungszusammenarbeit, regionaler Integration und Regelung von Migration. Sie ist Mitgründerin der African Non-State Actors Platform on Migration and Development und Mitglied der Progressive Migration Group.

Zuwanderung wird in unserem Land zunehmend als Sicherheitsrisiko gesehen. Wie nehmen Sie als in Deutschland lebende Afrikanerin das wahr?

Dass Zuwanderung, insbesondere aus Afrika, in Europa als Problem und nicht als Gewinn gesehen wird, steht nicht im Einklang mit den Vorteilen, die Europa im Laufe seiner Entwicklung aus Zuwanderung gezogen hat. Migranten leisten einen wichtigen Beitrag zum Arbeitskräftepool, zur Steuer- und Rentenbasis und zum sozialen Zusammenhalt in Europa. Während der Coronavirus-Pandemie stellten Migranten die Mehrheit der Arbeitskräfte in wichtigen Bereichen des Gesundheitswesens, der Impfstoffentwicklung und der Lieferdienste. Europäische Politiker und Beamte sollten ihre Sicht auf Zuwanderung überdenken und deren Vorteile herausstellen. Derzeit verwenden Politiker und Anti-Migrations-Propagandisten Daten, die Zuwanderung als Problem erscheinen lassen. Im Asylsystem und in der Gesellschaft werden Migranten als Menschen dargestellt, die die Aufnahmegesellschaft ausbeuten und ihr etwas nehmen. Auch Nachrichten großer Medien verbreiten Fehlinformationen über Migration. Das ist eine kalkulierte Ablenkung von den wirtschaftlichen und sozialen Problemen in Deutschland und Europa und davon, dass mehr Wege für reguläre Migration gebraucht werden.

Sie halten die Einwanderung für kein Problem – selbst wenn eine große Zahl von Menschen in kurzer Zeit ankommt wie nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine?

Migration wird zum Problem, wenn sie nicht gut gesteuert wird und die Beweggründe der Migranten nicht berücksichtigt werden. In akuten Krisen sind humanitäre Gesichtspunkte wichtig; Vorrang hat, Leben zu retten, und dazu sind Grenzöffnungen nötig. Es ist lobenswert, dass Mitgliedsländer der EU für die vor dem Krieg fliehenden Ukrainer da waren. Aber jenseits von Krisen: Viele Menschen von außerhalb der EU leben und arbeiten vorübergehend in einem EU-Staat, und ihre Motivation dafür gilt nicht als Problem. Die meisten Migranten in Europa haben einen regulären Status und eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Aber weil die Zugangswege eingeschränkt sind, erhalten andere mit ähnlichen Qualifikationen und Berufserfahrungen diese Chance nicht. Wir müssen mehr legale Zugangswege für Migranten öffnen, denn laut Studien werden auf dem europäischen Arbeitsmarkt mehr unterschiedliche Talente und Fähigkeiten gebraucht.

Sind die Abkommen, die europäische Länder wie Deutschland mit einzelnen Herkunftsländern schließen, ein vernünftiger Weg, Migration zu regeln?

Da muss man unterscheiden. Die meisten Abkommen mit afrikanischen Ländern bieten keine legalen Wege für Arbeitsmigration, die sowohl den in Europa benötigten Qualifikationen als auch den Motiven der Migranten entsprechen. Einige wie das Abkommen mit Kenia tun das, verknüpfen aber Wege für qualifizierte Zuwanderung mit Druck aus Deutschland, dass das Land mehr abgelehnte Asylbewerber zurücknimmt. Beides bringt keine Lösung. Auch Abkommen wie die mit Tunesien, Marokko und dem Niger, die Migranten von den Grenzen Europas fernhalten sollen, tragen nicht dazu bei, irreguläre Migration einzudämmen. Schmuggler profitieren davon, dass der Zugang eingeschränkt wird, und bieten Menschen, die in Europa als Arbeitskräfte gebraucht werden, irreguläre Wege an. Dieses Problem verursacht die EU mit ihrer Migrationspolitik der Abschließung selbst. Ein zweites wichtiges Ziel einer guten Migrationssteuerung ist die Legalisierung von irregulären Einwanderern. Weil sie keinen legalen Status haben, ist ihre Integration eingeschränkt. Portugal hat während der Coronavirus-Pandemie Migranten einen regulären Status gegeben. Andere Länder haben sich entschieden, zirkuläre Migration zu erleichtern, das heißt Migranten reisen vorübergehend in ihr Herkunftsland zurück und tragen dort zu Entwicklung bei.

Was sind die Vorteile – führt es zu weniger oder zu mehr Einwanderern?

Die Geschichte hat gezeigt, dass zirkuläre Migration für die Migranten, die Herkunftsländer und die Aufnahmeländer von Vorteil ist. Tunesier zum Beispiel sind als Gastarbeiter nach Deutschland eingewandert. Als Deutschland in den 1990er Jahren seine Visapolitik strenger machte, brachten mehr als zuvor ihre Familien mit – zum Teil, um sich den Zugang nach Deutschland und zugleich den Zugang zu ihren Familien zu sichern. Viele tunesische Arbeitnehmer hätten es vorgezogen, bei zirkulärer Migration zu bleiben und so die Verbindung zum Herkunftsland zu behalten. Solche Modelle funktionieren, besonders für Länder, die nahe an der EU liegen wie die Balkanstaaten. Aber auch mit Ländern südlich der Sahara kann so ein Ansatz erprobt werden, der auf der Entwicklung von Qualifikationen, menschenwürdiger Arbeit und gegenseitigem Nutzen beruht. Arbeitskräfte gehen immer dorthin, wo es Arbeitsplätze gibt. Wenn wir die wirtschaftlichen und sozialen Triebkräfte verstehen, verstricken wir uns nicht in Debatten über irreguläre Migration.

Was stört Sie an den Migrationsabkommen, die legale Zugangswege anbieten?

Meiner Meinung nach sollen einige von ihnen zu viele Probleme auf einmal lösen und sind einseitig auf Europas Vorteil ausgerichtet. Zum Beispiel hat Deutschland im September 2024 ein Abkommen mit Kenia geschlossen, das Mobilität für Fachkräfte und Berufsausbildung von Kenianern vorsieht, aber von Kenia auch verlangt, sich für die sehr wenigen abgelehnten kenianischen Asylbewerber in Deutschland zu öffnen und auch für solche aus Drittländern wie Uganda. Dieser Fokus auf Rückführung ist unpassend und die Auswirkungen auf die Beziehungen und die regionale Zusammenarbeit in Afrika sind fragwürdig. Und es wird ignoriert, dass Migranten, die in Deutschland auf eine Asylentscheidung oder Legalisierung warten, oft schon in deutsche Sprachkenntnisse investieren. Sie sind in der Regel qualifiziert, gut ausgebildet und könnten leicht Arbeit finden. Warum sollte Deutschland, das Arbeitskräfte braucht, sie nach einem gescheiterten Asylverfahren unter einem Rückführungsabkommen zurückschicken und gleichzeitig aus demselben Land Migranten anwerben? Vernünftiger wäre zu prüfen, denen einen legalen Status zu geben, die bereits in Deutschland sind.

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Was halten die afrikanischen Länder von Europas Drängen auf Migrationsabkommen?

Aus afrikanischer Sicht gelten Abkommen, die auf Grenzschutz und Grenzsicherung innerhalb Afrikas hinarbeiten, als Versuche, die EU-Außengrenze auf afrikanisches Territorium zu verlagern und Migranten von den EU-Grenzen weg zu drängen. Dies belastet die Beziehungen zwischen betroffenen afrikanischen Ländern und beeinträchtigt die Mobilität in ihrer Region. Die Afrikanische Union strebt Freizügigkeit auf dem Kontinent an. Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS hat dazu Schritte ergriffen, wenn auch mit Schwierigkeiten verbunden. Die Abmachungen und Migrationsabkommen mit der EU machen Viehzüchtern und Händlern in Westafrika, die darauf angewiesen sind, mit ihren Tieren oder Waren Grenzen zu überqueren, das Leben noch schwerer. Sie verschlechtern auch die Beziehungen zwischen Nordafrika und Subsahara-Afrika. Jüngst haben sie in Tunesien tödliche Folgen gehabt: fremdenfeindliche Angriffe auf Migranten aus Subsahara-Afrika infolge von offiziellen Erklärungen aus der Politik. Das stellt die Rolle der EU als Förderer des Friedens in Frage und zeigt, dass Europa sich nur um seinen Vorgarten kümmert und sich nicht dafür interessiert, was jenseits davon geschieht.

Die Progressive Migration Group, der Sie angehören, schlägt "Ko-Entwicklung" als alternative Strategie vor. Was verstehen Sie darunter?

In Diskussionen über Migration wird kaum ein Bezug zu Entwicklung hergestellt – die Zielländer drängen nur, irreguläre Migration einzudämmen. Geld, das für Entwicklungsförderung vorgesehen war, ist in die Verbesserung der Grenzsicherheit geflossen, und Europa setzt immer mehr auf Zwangsrückführungen. Der Emergency Trust Fund für Afrika, den die EU Ende 2015 eingeführt hat, fokussiert auf Rückkehr und Reintegration und ist für die Entwicklungsperspektiven in den Herkunftsländern ein schlechter Handel. Wir fordern eine Neuausrichtung der Migrationspolitik mit Blick auf gemeinsame Entwicklung, die den Dialog und die Diplomatie mit afrikanischen Partnerländern in den Mittelpunkt stellt. Der Schwerpunkt soll darauf verlagert werden, die Institutionen in den Herkunftsländern zu stärken und die Bedürfnisse der lokalen Gemeinschaften zu berücksichtigen sowie aufmerksam die Beweggründe der Migranten und der Flüchtlinge anzuhören. Menschen in der Diaspora, Migrantenorganisationen sowie Migrationsfachleute aus der Gesellschaft, der Wissenschaft und aus Organisationen, die sich für die Rechte von Flüchtlingen einsetzen, sollen eine entscheidende Rolle spielen. Ohne Zweifel können die europäischen Staaten entscheiden, wer in ihr Hoheitsgebiet einreist. Wir als nichtstaatliche Akteure aus Afrika setzen uns aber dafür ein, dass Europa mehr reguläre Wege jenseits von Migrationspartnerschaften öffnet irregulär Eingereisten Möglichkeiten gibt, einen regulären Status in ihren Mitgliedsländern zu bekommen. Sicher müssen wir den möglichen Abzug von Qualifikation aus den Herkunftsländern bedenken – aber auch die Verschwendung von Qualifikation, wenn manche Migranten in Europa Jobs machen, in denen sie das zu Hause Gelernte nicht nutzen können. Die Strategie, die irreguläre Migration mit Abschiebungen zu verringern, ist ganz klar gescheitert.

Das Gespräch führte Bernd Ludermann.

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