Indiens Wirtschaft wächst rasch. Warum soll es da riskant sein, den eigenen Markt für ausländische Supermarkt-Ketten wie Wal-Mart, Carrefour, Metro oder Rewe zu öffnen?
Der Grund ist unsere Landwirtschaft. Sie macht zwar nur knapp ein Fünftel des indischen Bruttonationalprodukts aus, aber mehr als 60 Prozent der Menschen leben davon. Neben den rund 120 Millionen meist kleinbäuerlichen Betrieben gibt es mehr als 12 Millionen kleine Ladenbesitzer. 35 Millionen Menschen arbeiten im Einzelhandel, davon über 70 Prozent allein im Lebensmittelbereich. Die Ansiedlung großer Supermärkte aus dem Ausland zerstört diese Struktur. Sie gefährdet die Existenz vieler Klein- und Straßenhändler. Besonders dann, wenn die mit der Ansiedlung von Supermärkten einhergehende Zentralisierung des Handels nicht genügend kontrolliert wird. Und daran fehlt es derzeit.
Ist die Öffnung des Handels bei Kleidung, Möbeln oder Freizeitartikeln ähnlich problematisch?
Das Problem betrifft besonders den Handel mit Lebensmitteln. In anderen Bereichen gilt beispielsweise die „One-Brand“-Regelung. Danach werden ausländische Anbieter von einzelnen Marken zugelassen. Beispiele sind Modefirmen mit eigenen Läden oder Möbelhausketten. Problematisch ist es, wenn große ausländische Handelshäuser ein großes Spektrum an Produkten und Marken abdecken. Gerade in der Landwirtschaft und im Einzelhandel würden bei zu umfänglicher Marktöffnung Unternehmen wie Wal-Mart, Carrefour und Metro den Markt völlig umkrempeln.
In Indien gibt es inzwischen eine finanziell gut gestellte Mittelschicht, die sich mehr Konsum leistet. Dieser Markt müsste doch das Angebot der großen Ketten aufnehmen, oder?
Ja, aber die Lebensmittel-Supermärkte greifen tief in die bestehenden Strukturen auf Handels- und Produktionsebene ein. Auch die Mittelschicht kauft ja bis jetzt ihre Lebensmittel bei Klein- und Straßenhändlern. Künftig wird sie das im Supermarkt tun. Und der wird seine Ware bevorzugt von großen Produzenten beziehen, während die vielen Kleinbauern weitgehend außen vor bleiben. Noch werden nur ein Prozent Lebensmittel in Supermärkten gekauft; aber das könnte sich sehr schnell ändern. Auch der Zwischenhandel droht in wenigen Händen konzentriert zu werden.
Wird die Ansiedlung von Supermärkten auch die Kaufgewohnheiten der Armen verändern?
Drei Viertel der Inder leben unter der Armutsgrenze von zwei US-Dollar pro Tag. Sie kaufen ihre Waren überwiegend auf lokalen Märkten ein – und das zu sehr niedrigen Preisen. Weder sie noch die Kleinbauern und Händler profitieren von den Supermärkten. Dabei gäbe es durchaus Möglichkeiten, auch die kleinen Händler zu stärken: mit Kooperationen, finanzieller Unterstützung oder indem mehr soziale Sicherheit für informell Arbeitende geschaffen wird.
Was erwarten Sie von der Europäischen Union und von der deutschen Regierung in den laufenden Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen?
Die Situation der Armen in Indien droht sich zu verschärfen, wenn eine weitere Liberalisierung Platz greift, die auf Entwicklungsbelange wenig oder gar keine Rücksicht nimmt. Ich erhoffe mir, dass die Zivilgesellschaft und die nichtstaatlichen Organisationen auf die EU-Kommission einwirken, von Forderungen nach sozial schädlicher Deregulierung Abstand zu nehmen.
Teilen die indischen Wirtschaftsverbände Ihre Befürchtungen?
Es gibt die Unternehmensverbände und es gibt die Interessenvertretungen der kleinen Leute, die zahlenmäßig sogar recht stark sind. Das Problem ist: Die Regierung hat wenig Interesse daran, sich mit Letzteren auseinanderzusetzen, und hält sich bevorzugt an die Unternehmensverbände. Die stehen einer Marktöffnung weit weniger kritisch gegenüber als wir; sie versprechen sich vom deregulierten Warenaustausch auch Vorteile.
Wie sollte die indische Regierung in den Verhandlungen mit der EU agieren?
Die Regierung muss die wirtschaftliche Entwicklung im Interesse aller im Auge behalten. Dazu gehört, auf die Belange der Millionen kleinen Produzenten und Händler Rücksicht zu nehmen. Es muss weiter wirksame Regulierungen geben, die ihnen eine wirtschaftliche Existenz sichern. Diese Menschen müssen geschützt, ihre Arbeits- und Mitspracherechte müssen gestärkt werden.
Das Gespräch führte Johannes Schradi.