August 2009 in Bamako: Malis Nationalversammlung verabschiedet mit großer Mehrheit ein neues Familiengesetz. Es verspricht vor allem, die Rechtsstellung von Frauen zu stärken. Alle, die sich seit Jahren für das Gesetzesvorhaben eingesetzt haben, sind erleichtert. In einem Anflug von Euphorie hoffen manche Frauenrechtsorganisationen gar auf Rückenwind für weitere Gesetzesreformen wie das Verbot von weiblicher Genitalverstümmelung. Doch stattdessen folgt ein Sturm der Entrüstung. Islamische Organisationen, allen voran der Hohe Islamrat, machen mobil gegen das neue Familienrecht. Das Gesetz stehe gegen die traditionellen Werte und religiösen Überzeugungen der großen Mehrheit der Bevölkerung, lautet ihre Kritik.
Autorin
Elke Proell
ist freie Journalistin und Beraterin mit Schwerpunkt Entwicklungszusammenarbeit in Saarbrücken. 2009 hat sie fünf Monate für den Deutschen Entwicklungsdienst in Mali Organisationen beraten, die gegen Genitalverstümmelung kämpfen.Die Proteste gegen das Familiengesetz waren der bisherige Höhepunkt der Versuche von Vertretern des Islam, politisch Einfluss zu nehmen. Auf ihren Widerstand stoßen unter anderem die Heraufsetzung des Heiratsalters auf 18 Jahre und neue Regelungen zum Erbrecht unehelicher Kinder. Auch der Artikel, nach dem Eheleute zu gegenseitigem Respekt, Schutz und Loyalität verpflichtet sind, statt dass die Frau bedingungslos gehorsam zu sein hat, erzürnt die Eiferer. Doch der wohl wichtigste Punkt ist, dass nach dem neuen Gesetz rein religiöse Eheschließungen zivilrechtlich nicht anerkannt werden sollen. Für die Imame ein Angriff auf ihre Autorität.
Mali gilt bislang als eine stabile Demokratie. Als 1991, nach insgesamt 30 Jahren autoritärer Herrschaft, der damalige Staatschef Moussa Traoré aus dem Amt geputscht wurde, begann ein demokratischer Aufbruch, der das Sahelland in den Folgejahren zu einem Vorbild in Afrika machte. Eine Nationalkonferenz beriet über die Neuordnung des politischen Systems und eine neue Verfassung. Die Entscheidung für eine laizistische Staatsordnung wurde auch von den beteiligten Vertretern des Islam vorbehaltlos mitgetragen, einschließlich des Verbots religiös motivierter politischer Parteien.
Mit der Demokratisierung entstanden auch immer mehr nichtstaatliche Organisationen, sowohl weltanschaulich neutrale als auch religiös geprägte. Dank Vereins- und Versammlungsfreiheit wurde eine Vielzahl von islamischen Organisationen mit unterschiedlicher Ausprägung gegründet. Viele sind vor allem karitativ und kulturell tätig. Doch in den vergangenen Jahren ist eine zunehmende Politisierung zu beobachten. Die Konkurrenz um Anhängerschaft treibt manche zu einer Radikalisierung ihrer Positionen. Mit Unterstützung aus Libyen und Saudi-Arabien sind salafistische und wahhabitische Gruppen bestrebt, mehr Einfluss zu gewinnen.
Deutsche Entwicklungszusammenarbeit in Mali
Dank der jahrelang stabilen politischen Rahmenbedingungen ist Mali für viele Geber ein bevorzugtes Partnerland, zumal es nach wie vor zu den ärmsten Ländern der Welt gehört. Im ...
Traditionell ist der westafrikanische Islam moderat und tolerant, doch der Fundamentalismus gewinnt an Boden. Bis vor wenigen Jahren sah man in Mali, wie andernorts in Westafrika, auf der Straße keine von oben bis unten schwarz verschleierten Frauen. Inzwischen kommt das durchaus vor. Armut und Perspektivlosigkeit, gepaart mit einer traditionell autoritären und patriarchalen Gesellschaftsstruktur, machen es den Fundamentalisten leicht, neue Anhänger zu gewinnen. Und die finden sich längst nicht nur bei den Allerärmsten. Auch viele gut ausgebildete junge Menschen wenden sich dem Fundamentalismus zu, wenn sie keine wirtschaftliche und gesellschaftliche Perspektive für sich sehen.
Bei den Protesten gegen das Familiengesetz hat sich gezeigt, wie groß das Potenzial und die – nicht zuletzt finanziellen – Möglichkeiten der islamischen Organisationen sind, Massen zu mobilisieren. Den Höhepunkt bildete eine Kundgebung mit 50.000 Menschen im Stadion in Bamako. Der Staat und die für das Gesetz eintretenden Teile der Zivilgesellschaft zeigten sich hingegen völlig unvorbereitet auf den Widerstand, sie reagierten zaghaft und zögerlich. Die Abgeordneten gingen in die Parlamentsferien und die Regierung schwieg lange zu der Streitfrage. Auch von den Frauenorganisationen war wenig zu hören, während die Medien ausführlich über die Demonstrationen gegen das Gesetz berichteten. Schließlich entschied sich Staatspräsident Amadou Toumani Touré, selbst ein Befürworter des Gesetzes, es vorerst nicht zu unterschreiben, sondern den Text zu einer zweiten Lesung an die Nationalversammlung zurückzugeben. Um Ruhe und sozialen Frieden zu bewahren, wie Touré in seiner Erklärung sagte.
Diejenigen, die sich seit Jahren für das Gesetz stark machen, fragen sich, warum es so weit gekommen ist. Nana Sissoko Traoré, Präsidentin des Dachverbandes von Frauenrechtsorganisationen „Groupe Pivot Droit et Citoyenneté des Femmes“, sieht große Versäumnisse bei der Regierung. „Nach der Verabschiedung im Parlament hat sich niemand öffentlich unterstützend zum Gesetz geäußert“, beklagt sie. Die Regierung habe ihre Verantwortung nicht wahrgenommen, die Bevölkerung über das Gesetz zu informieren. Sie ist überzeugt, dass Unkenntnis über den tatsächlichen Inhalt des Familiengesetzes das Grundproblem ist. Ohne Rückendeckung von staatlicher Seite sei es aber für Frauenorganisationen schwierig, Aufklärungsarbeit zu leisten.
Darüber hinaus ärgert sich Traoré darüber, wie islamische Gruppierungen mit bewussten Fehlinformationen die öffentliche Meinung manipulierten. So wird etwa Safiatou Dembele, die Vorsitzende der „Union Nationale des Femmes Musulmanes“, mit den Worten zitiert: „Nur eine kleine Minderheit von Frauen hier will dieses neue Gesetz – die Intellektuellen. Die armen Frauen und Analphabetinnen in diesem Land, die wirklichen Musliminnen, sind dagegen.“ Für Traoré sind solche Aussagen nicht nur falsch, sondern auch gefährlich, weil damit versucht werde, die Gesellschaft zu spalten. Niemand könne behaupten, die Mehrheit der Frauen sei gegen das Gesetz, denn die meisten würden es nicht einmal kennen. Im Familiengesetz solle lediglich verankert werden, was auch in der Verfassung von 1992 steht, zum Beispiel, dass die Rechte der Frauen und damit die Gleichberechtigung gefördert werden sollen.
Um dem Ruf nach mehr Aufklärung über den Inhalt des Gesetzes nachzukommen, hat das Maison de la Presse in Bamako Anfang Oktober Informations- und Diskussionsveranstaltungen für Journalisten und Radiomoderatoren veranstaltet in der Hoffnung auf eine Versachlichung der Debatte in den Medien. Der Hohe Islamrat hat eine Kommission einberufen, die Änderungsvorschläge für die strittigen Artikel des Gesetzes erarbeiten und dem Parlament vorschlagen soll. Dazu gehört auch ein Vorschlag zur Anerkennung religiöser Eheschließungen.
Dabei waren bereits viele Bestimmungen im vorliegenden Gesetz Kompromisse mit den Religiösen, die von Anfang an in die Erarbeitung einbezogen waren. So besteht etwa nach wie vor die Wahlmöglichkeit zwischen monogamer oder polygamer Ehe. Bei der Frage des Heiratsalters gibt es Ausnahmeregelungen, nach denen auch weiterhin Kinder unter 18 Jahren verheiratet werden können. Im Erbrecht kann zwischen traditionellem Brauch, islamischem Recht oder dem modernen Zivilrecht gewählt werden. Deshalb mahnt Nana Sissoko Traoré zu Vorsicht, um die Grundideen des Gesetzes nicht durch allzu große Zugeständnisse auszuhöhlen. Ob malische Frauen ihrem Ehemann per Gesetz zu Gehorsam verpflichtet sein sollen, wird vom Islamrat weiterhin diskutiert, auch wenn dessen Vorsitzender bekundet, dass es ihnen keinesfalls um die Einführung der Scharia geht.
Die nationale Ombudsfrau, Mbam Diatigui Darra, ist nun damit beauftragt, den Streit um das Gesetz zu schlichten. In mehrtägigen Seminaren wie dem „Forum zur Familie in Mali: gestern, heute und morgen“ lässt sie die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zu Wort kommen, und Juristen erklären die Grundlagen des Familienrechts.
Die Nationalversammlung hat es allerdings nicht eilig, neue Kompromissvorschläge zu prüfen. Es seien weitere Beratungen nötig, waren sich die Abgeordneten einig und vertagten die Debatte. Frühestens im April wird sie wieder auf der Tagesordnung stehen. Kritiker befürchten, dass es dem Familiengesetz ähnlich ergeht wie dem Gesetzesentwurf zum Verbot der Todessstrafe: Die Entscheidung hierüber wird von den Abgeordneten seit zwei Jahren regelmäßig vertagt, immer begründet mit der Forderung nach zusätzlichen Informationen. Auch hier stehen traditionelle und religiöse Vorstellungen modernen rechtsstaatlichen Prinzipien entgegen. Und auch hier meldet sich der Hohe Islamrat immer wieder zu Wort.
Wenn sich also die internationale Gebergemeinschaft im Land sorgt, dass islamistische Kräfte weiter Einfluss gewinnen und regelmäßig staatliche Reformvorhaben zu ihren Gunsten beeinflussen könnten, scheint das berechtigt. Sicherlich ist die Situation in Mali nicht vergleichbar mit der in Nigeria, wo islamistische Rebellen in immer mehr Bundesstaaten die Einführung der Scharia erkämpfen. Allerdings gerät die laizistische Grundordnung des malischen Staates in Gefahr, wenn seine Repräsentanten nicht offensiver demokratische Werte verteidigen – auch wenn sie manchmal unpopulär sind. So lässt es aufhorchen, wenn Arbeitsminister Ibrahima N’Diaye beim Neujahrsempfang des Premierministers zum Familiengesetz sagt: Der Umgang mit der „ultrasensiblen Akte“ sei ein neuerlicher Beweis dafür, dass die demokratischen Prozesse in Mali vorbildlich funktionierten.