Trotz Ölboom ist die Nation gespalten

Eine Irakerin in weißer Bluse und mit Sonnenbrille, den Arm erhoben, vor der Kulisse einer Protestdemonstration. Manche der Frauen im Hintergrund sind schwarz gekleidet und tragen Schilder vor sich her. Links im Bild auch Männer.
AHMAD AL-RUBAYE/AFP via Getty Images
Frauenrechte wieder einschränken und Kinderehen erlauben – gegen dieses Vorhaben gehen in Bagdad im August Frauen und auch einige Männer auf die Straße.
Irak
Öleinnahmen sorgen für einen Wirtschaftsboom im Zentrum des Irak. Während sich das Land stabilisiert, wollen vor allem schiitische Parteien Fortschritte bei Frauenrechten zurückdrehen, und die Kurdenregion im Norden ist im Niedergang.

Bagdad ist kaum wiederzuerkennen. Überall stehen Kräne und Bagger, wird gehämmert, zementiert, gebohrt, geschliffen und geschweißt. Hochhäuser wachsen in den Himmel, Malls locken zum Kaufrausch, Stadtviertel erneuern sich mit schicken, modernen Appartements. Alte, in Terroranschlägen beschädigte Häuser werden entweder abgerissen oder repariert. Straßen werden aufgerissen, um neue Rohre zu verlegen, Brücken gebaut, um die Verkehrssituation in der Acht-Millionen-Metropole zu entlasten. Auch optisch putzt sich die Stadt heraus: Bunte Lichter erstrahlen an Palmen und Gebäuden, am Tigris entstehen Wasserspiele. Die letzten Betonmauern verschwinden, die jahrelang vor Terroranschlägen geschützt haben. 

Auch in anderen Landesteilen, vor allem im Süden des Irak, geht es aufwärts, Schutt und Geröll werden abgeräumt, Neues entsteht. Schluss mit der grauen Zeit, als Krieg und Terror das Szenario beherrschten und ganze Stadtviertel im Dunkeln lagen. „Es ist unglaublich, wie viel gerade passiert“, sagen die Gäste in einem der trendigsten Szenerestaurants im Bagdader Stadtviertel Karrada. Das „650“ ist in alten Lagerhallen neu entstanden, hat ein Gym für Männer und Frauen, eine Galerie mit zeitgenössischer Kunst und ein Restaurant, in dem es Bio-Essen gibt und jede Menge Salat: „Gesundes Essen“, kommentiert Geschäftsführer Nasir Shaalan, „ist der neue Trend.“ 

Der Irak schwimmt in Geld, weil er im Öl schwimmt. Das Land zwischen Euphrat und Tigris hat die zweitgrößten Ölvorkommen weltweit. Und da der Ölpreis seit Beginn des Ukraine-Krieges auf hohem Niveau bleibt, werden täglich fast 4,5 Millionen Fass Rohöl gefördert. Der Export bringt hohe Einnahmen. Das wird wohl noch eine Weile so bleiben, denn seit den Kriegen in der Ukraine und in Gaza sieht es danach aus, dass sich die Abkehr von Öl und Gas verzögern wird. 

Außer Öl nicht viel zu bieten

Sehr zum Gefallen der irakischen Regierung, denn die Wirtschaft des Landes hat außer Öl nicht viel zu bieten. Über 90 Prozent des Staatshaushalts stammen aus dem Verkauf des schwarzen Goldes. Und das Budget des Irak ist für 2024 ungefähr so hoch wie das der Bundesrepublik Deutschland, die doppelt so viele Einwohner hat wie der Irak und ein um das Vielfache höheres Bruttoinlandsprodukt: Die Staatsausgaben pro Einwohner sind im Irak höher als in Deutschland, aber die Volkswirtschaft hängt weitgehend vom Öl und von den Staatsausgaben ab.

„Iraq First“ hat Premierminister Mohamed Shia al-Sudani als Parole für seine Amtszeit ausgegeben, die 2022 begonnen hat. Es geht um den Wiederaufbau des Landes, um eine künftige politische Struktur, die allen Wirren standhält. Denn seit zwei Jahren kann man sagen: Der Irak war seit dem Einmarsch der Amerikaner und Briten 2003 noch nie so sicher vor Anschlägen wie jetzt. Das Chaos, das durch den Einmarsch der USA und Großbritanniens entstanden war, hat den Menschen und dem Land viel abverlangt. Ein Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten und der Terror von al-Qaida und des Islamischen Staates (IS) von 2003 und 2017 haben überall Spuren hinterlassen. Die Wunden vernarben nur schwer. „Iraq First“ ist ein Appell an das Zusammengehörigkeitsgefühl der Iraker und ein Ruf nach einem Nationalismus, den es bis heute nicht gibt.

„Irak ist nicht Afghanistan!“

Allerdings weisen die neuesten Entwicklungen in eine andere Richtung. Irakerinnen gehen in Scharen auf die Straßen, um gegen einen Gesetzentwurf zu protestieren, der derzeit im Parlament auf dem Tisch liegt und sie entmündigen will. „Die wollen uns Frauen knebeln“, schallt es landesweit von Kirkuk über Bagdad bis nach Basra. „Sie zerstören die irakische Gesellschaft“, steht auf Plakaten: „Nein zu Paragraf 188, Irak ist nicht Afghanistan!“ 

Irakerinnen haben in den letzten Jahren einen Riesenschritt nach vorne getan, selbstbewusst um ihre Rechte gekämpft und viel erreicht – etwa Jobs und auch hohe Positionen, gleiche Bezahlung im öffentlichen Dienst, mehr öffentliche Sichtbarkeit, höhere Scheidungsraten. Jetzt sieht es so aus, als ob das Patriarchat zurückschlagen und die Frauen in ihre Schranken weisen will. Würde das Gesetz verabschiedet, könnten Mädchen ab neun Jahren verheiratet werden, geschiedene Frauen verlören jeglichen Anspruch auf Unterhalt und müssten ihre über zwei Jahre alten Kinder an ihren Ex-Mann abgeben. Auch in Erbschaftsangelegenheiten stünden sie deutlich schlechter da als jetzt. „Es ist ein Gesetz für Pädophile“, beklagen Demonstrantinnen am Tahrir-Platz in Bagdad, wo sie vor vier Jahren schon einmal standen und Freiheit und Demokratie forderten. 

Der Arabische Frühling ist im Irak genauso gescheitert wie zuvor in Ägypten, in Syrien und im Jemen. Doch gesellschaftlich hatten die Frauen Hoffnung, etwas bewegen zu können. „Sollte das Gesetz durchkommen, wird auch diese Hoffnung zerstört“, sagt Surood Falih verzweifelt. Jahrelang hat sie mit der zivilgesellschaftlichen Organisation Al-Amal für Frauen- und Kinderrechte gekämpft und für den Schutz der Frauen vor häuslicher Gewalt eingesetzt. „Mit dem neuen Gesetz gehen wir zurück in die Steinzeit.“

Eine Allianz will das Personenstandsgesetz verändern

Zum dritten Mal schon innerhalb der vergangenen zehn Jahre versuchen vor allem schiitische und pro-iranische Parteien, denen auch Premier al-Sudani angehört, Iraks Personenstandsgesetz 188 aus dem Jahr 1959 zu verändern. Diesmal könnten die Parteien Erfolg haben, denn sie haben sich zu einer Allianz zusammengeschlossen und die Mehrheit im Parlament. So haben sie schon im April ein Gesetz zur Bekämpfung von Prostitution und Homosexualität durchgesetzt, das jede Art von gleichgeschlechtlichem Sex unter Strafe stellt und LGBTQ-Menschen kriminalisiert. Federführend dabei war derselbe Abgeordnete, Raad al-Maliki, der auch jetzt das frauen- und kinderfeindliche Gesetz eingebracht hat. Anfang August hat es eine erste Lesung erfahren. 

Käme der Entwurf durch, würde er Ehepaaren – in der Praxis dem Ehemann – die Wahl geben zwischen einer Zivilehe oder einer Ehe vor religiösen Gerichten. Für die Gegner des Entwurfs beginnt genau hier das Problem: Er öffne die Tür für potenziell repressive Interpretationen des islamischen Rechts, legalisiere Frauendiskriminierung und Kindesmissbrauch mit den Ehen ab neun Jahren. Die internatio­nale Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch warnt vor „katastrophalen Folgen für Frauen- und Kinderrechte“.

Die kurdische Autonomieregion ist am Zerfallen

Auch im kurdischen Norden hält man nichts von der „Iraq First“-Politik. Denn sie bedeutet, dass die Zentralregierung in Bagdad immer dominanter wird und die Autonomieregion der Kurden an Eigenständigkeit verliert. Die kurdische Autonomieregion ist im Zerfallen begriffen. Der Niedergang der Region, die einmal Iraks Leuchtturm war, ist allgegenwärtig.

Autorin

Birgit Svensson

ist freie Journalistin und hat im Herder-Verlag das Buch „Mörderische Freiheit – 15 Jahre zwischen Himmel und Hölle im Irak“ veröffentlicht.

Dabei hatte alles hoffnungsvoll angefangen, als zwischen 2005 und 2010 bis zu 60.000 Kurden aus Europa hierher zurückkehrten, die meisten aus Deutschland. Die Einwohnerzahl der Kurdenmetropole Erbil verdoppelte sich damals binnen weniger Jahre. Der jahrhundertealte Basar wurde abgerissen, neue Arkaden gebaut, Wasserfontänen und Lichtshows installiert, die Straßenhändler aus der Innenstadt verbannt. 

Auch Suleimanija, Kurdistans zweitgrößte Stadt, und Dohuk erlebten einen Immobilienboom sondergleichen: Hochhäuser, Shopping-Malls, Hotels. Größer und höher musste alles sein. Neue Ölfelder wurden in der autonomen Region entdeckt und erschlossen. Die Kurden wähnten sich in einem immerwährenden Aufschwung. Doch jetzt stehen die Baukräne still, die Fassaden bröckeln, Restaurants und Hotels müssen schließen, weil sie nicht genügend Gäste haben. Tausende Kurden verlassen die Region Richtung Europa.

Wie ist es zu diesem Niedergang gekommen? Außer Immobilien und Öl hat Kurdistan nichts weiter entwickelt. Hochtrabende Agrarentwicklungspläne landeten ebenso in den Schubladen der untätigen Behörden wie Pläne für Industrieansiedlungen. Dann platzte 2013 die Immobilienblase. Da die Gewinne bis dahin ins Ausland transferiert und nicht im Land selbst investiert wurden, gab es keine Rücklagen. Zudem brach der Ölpreis erstmals ein. Und die kurdische Regionalregierung, allen voran der damalige Kurdenpräsident Masud Barzani, bekam Krach mit Bagdad, der bis heute anhält. Hauptstreitpunkt ist, dass die Kurden das Öl, das bei ihnen gefördert wird, unabhängig von Bagdad verkaufen wollen, statt dafür nur 17 Prozent aus dem irakischen Budget zu erhalten. 

Die Öleinnahmen des Kurdengebiets halbierten sich

Ergebnis: Diese Überweisungen aus der Hauptstadt an die Kurdenregion blieben ab 2013 aus und die Öleinnahmen des Kurdengebiets halbierten sich. Der aufgeblähte öffentliche Sektor konnte nicht mehr bezahlt werden, in dem fast 70 Prozent der erwerbstätigen Kurden auf der Gehaltsliste stehen und der 80 Prozent des Haushalts der Region schluckt. Monatelang bekamen Lehrer, Universitätsprofessoren, Dozenten und Ärzte kein Geld. 

Ein Jahr später, 2014, rollte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) über den Nordirak, zwar nicht in die Kurdengebiete, aber haarscharf daran vorbei. Millionen von Flüchtlingen, viele keine Kurden, fanden Unterschlupf im sicheren Hafen Kurdistan. Als eine Koalition, der auch kurdische Peschmerga-Kämpfer angehörten, den IS 2017 besiegt hatte, wähnte sich Barzani stark genug, einen unabhängigen Kurdenstaat anzustreben, und ließ eine Volksbefragung darüber abhalten, die mit großer Mehrheit für ein eigenständiges Kurdistan ausfiel.

Doch der Alleingang kam Barzani teuer zu stehen. Nicht nur Bagdad war alarmiert, sondern auch die Nachbarn Türkei und Iran opponierten scharf. Selbst Kurdistans engste Verbündete, die USA, distanzierten sich von dem Ansinnen. In letzter Minute konnte ein Waffengang zwischen der irakischen Armee und den Peschmerga verhindert werden. Dann kam Covid-19, die Pandemie beschleunigte die Talfahrt der Wirtschaft weiter. 

„Kurdistan ist die korrupteste Region in der ganzen Gegend“

Nun sind die Öleinnahmen des Irak wieder hoch, aber die Kurdenregion hat davon nichts. Denn gegen den Alleingang der Kurden beim Ölexport ist Bagdad vor den Schiedsgerichtshof der internationalen Handelskammer in Paris gezogen und hat Recht bekommen. Daraufhin hat die Türkei die Pipeline, durch die kurdisches Öl exportiert wurde, geschlossen. Und mangels Einigung zwischen Bagdad und Erbil können die Kurden derzeit kein Öl exportieren.

Inzwischen wächst allerdings die Zahl der Stimmen in Kurdistan, die den Niedergang der Region nicht nur äußeren Umständen zuschreiben. Eine gehört Rebaz, der seinen vollen Namen aus Angst vor Repressalien nicht nennen möchte. Er sitzt in seinem Laden in Dohuk, der drittgrößten Stadt der kurdischen Autonomiegebiete. „Kurdistan ist die korrupteste Region in der ganzen Gegend“, das habe er selbst als Geschäftsmann erfahren, der Businessmanagement studiert hat. Rebaz verkauft Feuerlöscher. Als die Pandemie nach Dohuk kam, wollte er auch Gesichtsmasken verkaufen. Das durfte er nicht, weil die regierende Familie Barzani diese produzierte und verkaufte und keine Konkurrenz zuließ. Überhaupt dominiere der Clan alles. „Wenn du ein Geschäft abschließt, wandern mindestens 50 Prozent in deren Taschen“, sagt Rebaz, „sonst machen sie dich kaputt.“ 

Irakisch-Kurdistan besteht aus drei Provinzen, die weitgehende Selbstständigkeit von Bagdad erlangt haben, und wird von zwei Familien dominiert, die alles unter sich aufteilen. Das sind die Talabanis in der Stadt und Provinz Suleimanija und die Barzanis in Erbil und Dohuk. Nicht wenige Menschen dort beklagen, dass im kurdischen Norden zunehmend Autokratie um sich greift. Dabei wird die kurdische Regionalregierung nicht müde zu betonen, dass sie sich der Demokratie verpflichtet fühle und die Menschenrechte achte. Das Gesetz 188 jedenfalls werden die kurdischen Provinzen nicht anerkennen, sollte es in Bagdad verabschiedet werden. „Kinderehen bleiben bei uns verboten“, sagt Ministerpräsident Masrur Barzani. 

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