Die Entscheidung des Obersten Gerichts in Bagdad wurde in der Autonomen Region Kurdistan als Paukenschlag wahrgenommen. Eigentlich hätten dort Ende Februar die überfälligen Wahlen zum Regionalparlament stattfinden sollen. Doch wenige Tage vor dem Wahltag erklärte das Oberste Gericht des Irak die Quotenregelung für verfassungswidrig, wonach im Regionalparlament 11 der insgesamt 111 Sitze für religiöse und ethnische Minderheiten reserviert sind: fünf für Christen, fünf für die turkmenische und einer für die armenische Gemeinschaft. Diese Sitze sollen nun wegfallen.
Die Patriotische Union Kurdistans (PUK), eine der beiden großen kurdischen Parteien, hatte gegen die Quotenregelung geklagt. Sie verspricht sich Vorteile von der Streichung der Minderheitensitze, denn bisher haben die elf Vertreter der Minderheiten in der Regel mit der anderen großen Partei gestimmt, der Kurdisch-Demokratischen Partei (KDP).
Zankapfel zwischen den zwei großen Parteien
Mit seiner Entscheidung hat das Oberste Gericht nun der PUK Recht gegeben. Das Regionalparlament verfüge laut irakischer Verfassung grundsätzlich nur über insgesamt 100 Sitze, und die seit 1992 vom Regionalparlament zugefügten elf Minderheitensitze seien deswegen verfassungswidrig. Verlierer sind jetzt nicht allein die KDP, sondern vor allem die Minderheiten. Deswegen haben die christlichen und turkmenischen Parteien gemeinsam mit der KDP angekündigt, die nächsten Wahlen zu boykottieren. Anhänger dieser Parteien stellten zuletzt zusammen mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten und können nun nicht für ihre bevorzugte Partei stimmen.
Die ursprünglich für 2022 angesetzte Regionalwahl war aufgrund der Streitigkeiten zwischen der KDP und der PUK über das Wahlgesetz erst auf November 2023 und dann noch einmal auf Ende Februar 2024 verschoben worden. Den Urnengang hat das Oberste Gericht mit seinem Urteil gestoppt. Die Wahlen müssen jedoch bis spätestens Anfang Juli nachgeholt werden, weil Regierung und Präsident der Autonomen Region nur bis dahin ein geschäftsführendes Mandat haben.
Steht die kurdische Autonomie auf dem Spiel?
Das Urteil schade der Demokratie, der Kultur des Zusammenlebens der Minderheiten und der Autonomie der Region Kurdistan, sagt die Parlamentssprecherin des Regionalparlaments Muna Kahveci von der Turkmenischen Reformpartei im Gespräch mit „weltsichten“. Das Urteil sei „politisch motiviert“ und hebele das Wahlgesetz aus, welches das Parlament der Region Kurdistan-Irak 1992 verabschiedet habe. Auch Romeo Hakkari von der Assyrischen Bet-Nahrain Partei sieht das so. „Hinter der Entscheidung des Obersten Gerichts stecken politische Motive. Das ist ein Rückzug von der Demokratie.“ Der Konflikt zwischen den beiden kurdischen Parteien sei die treibende Kraft hinter dem Urteil. Hintergrund dieser Anschuldigungen ist unter anderem die ständige Sorge in Erbil, dass Bagdad sich zu sehr in die Belange der Autonomen Region einmischen und langfristig deren Autonomie beschneiden könnte.
Kahcevi sieht neben dem irakischen Präsidenten und Premierminister jetzt auch das Ausland gefordert. „Die internationale Gemeinschaft hat die Pflicht, diese Ungerechtigkeit nicht durchgehen zu lassen. Die Rechte der Turkmenen und der Christen, der beiden wichtigsten Völker in der Region Kurdistan-Irak, werden verletzt.“
Allerdings ist der Streit um Minderheitensitze nichts Neues im Irak. In der Verfassung von 2005 ist eine Quotenregelung für Minderheiten im nationalen Parlament festgelegt. Auf dieser Grundlage hatte 1992 das kurdische Regionalparlament die elf Sitze in seinem Wahlgesetz eingefügt. Manche Kritiker sowohl aus der Mehrheitsbevölkerung als auch unter den Minderheiten sagen, die Minderheitenvertreter in den Parlamenten seien gekauft und verträten nicht die Interessen ihrer Wählerschaft. Sie fordern, die Quotenregelung im ganzen Land abzuschaffen, und verweisen darauf, dass der Irak eine Demokratie sei und Politik nicht über die Zugehörigkeit zu einer Religion oder Ethnie gemacht werden solle, sondern allein über Parteien. Diese stünden schließlich allen offen.
Noch helfen Quoten, den Frieden zu sichern
Langfristig sei das sicher „ein wünschenswertes Szenario“, sagt David Müller, der bei der Ojcos-Stiftung Referent für Religionsfreiheit im Irak ist; die Ojcos-Stiftung gehört zur ökumenischen Kommunität Offensive Junger Christen mit Sitz im hessischen Reichelsheim. Noch sei der Irak aber nicht so weit. Die Quotenregelung habe für das Miteinander im Vielvölkerstaat Irak eine befriedende Funktion.
Eine assyrische Christin aus Erbil bringt es so auf den Punkt: „Auch wenn die christlichen Vertreter im Regionalparlament vielleicht nicht immer meine Interessen vertreten, so macht es für mich schon einen Unterschied, ob es diese Sitze gibt oder nicht. Sie sind der Beweis dafür, dass wir hierhergehören und eine Zukunft haben können“, sagt sie am Telefon. Sie fürchte, dass noch mehr Christinnen und Christen den Irak verlassen, wenn es die Quotenregelung nicht mehr gibt. Seit dem Jahr 2003 ist deren Zahl von 1,5 Millionen auf knapp 200.000 gesunken.
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