Es gibt keine Völker ohne Geschichte

Von Reinhart Kößler und Tilman Schiel

Eric Wolfs entwicklungstheoretischer Beitrag beruht auf der Verknüpfung von lokaler kulturanthropologischer Forschung mit einer globalen historischen Perspektive. Daraus ergab sich  seine wegweisende Kritik am Konzept der „abgeschlossenen Gemeinschaft“. Zugleich lieferte er einen der ersten entwicklungstheoretischen Ansätze, die dem eindimensionalen Evolutionismus widerspricht, nach dem alle Gesellschaften verschiedene Entwicklungsstufen von „einfach“ bis „fortschrittlich“ durchlaufen.

Erich Robert Wolf wurde am 1. Februar 1923 in einem säkularisierten jüdischen Milieu in Wien geboren. 1938 ging die Familie angesichts der drohenden Nazi-Gefahr nach England, 1940 übersiedelte Wolf nach New York, wo er bald sein Interesse an Kulturanthropologie entdeckte. Nach dem Kriegsdienst in Europa promovierte er an der Columbia University. Er gehörte einer Gruppe von Studierenden an, aus der eine Reihe bekannter Ethnologen hervorging. Ihnen war die Kriegserfahrung ebenso gemeinsam wie die Beeinflussung durch den Marxismus. Unter der Anleitung Julian Stewards, des Begründers der „Kulturökologie“, begann Wolf 1947 mit der Feldforschung bei Kaffeebauern in Puerto Rico. Nach der Promotion 1951 lehrte er an verschiedenen Universitäten.

1961 übernahm Wolf eine Professur an der Universität von Michigan und engagierte sich zunehmend auch politisch: Mit dem Ethnologen Marshall Sahlins initiierte er 1965 das erste teach-in gegen den Vietnamkrieg. Gemeinsam mit Joseph C. Jorgensen leitete er eine  Untersuchung über den Missbrauch ethnographischer Forschung zur Aufstandsbekämpfung in Südostasien (Jorgensen and Wolf 1971). Ab 1971 war Wolf Distinguished Professor an der City University von New York (CUNY), wo er sich gemeinsam mit seiner zweiten Frau, der Ethnologin Sydel Silverman, Problemen der Weltsystemtheorie und der Entwicklung des Kapitalismus zuwandte. Daraus entstand 1982 das grundlegende Buch „Europe and the people without history“, das vier Jahre später unter dem Titel „Die Völker ohne Geschichte: Europa und die andere Welt seit 1400“ auf deutsch erschien. Auch danach verfolgte Wolf die globale Ausbreitung des Kapitalismus. Sein letztes Buch, „Envisioning Power: Ideologies of Dominance and Crisis“, erschien in seinem Todesjahr. Er starb am 6. März 1999 in Irvington, New York.

Als Wolf seine wissenschaftliche Tätigkeit begann, wurde die Diskussion von den klassischen Modernisierungstheorien mit ihren dualistischen Vorstellungen beherrscht, wobei insbesondere „Tradition“ als zu überwindendes Hindernis für „rationalen Fortschritt“ verstanden wurde. „Geschlossene korporative Gemeinschaften“ galten hierfür als hartnäckigstes Hindernis: Sie seien in unwandelbaren Traditionen befangen und böten keinen Raum für individuelle Entwicklung und Erfolg. Wolf zeigte frühzeitig, dass dies mit der Realität nichts zu tun hatte. Anhand von Material aus Mittelamerika und Zentraljava wies er 1957 nach, dass die dortigen Bauerngemeinschaften in ihrer Struktur wesentlich von der europäischen Expansion geprägt waren. In „Peasants“ (1966) belegte er, dass Bauern eigene Formen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Organisation besitzen und zu Wandel ebenso fähig sind wie zu hartnäckigem Beharren.

In der Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg untersuchte Wolf (1969) die Gründe, aus denen Bauern zur revolutionärsten Kraft des 20. Jahrhunderts geworden waren. Dies hatte beträchtliche  Folgen für die Debatte über ihre Rolle in der modernen, vor allem der unterentwickelten Welt (Shanin, 1971). Wolf kritisierte die Vorstellung von abgegrenzten, selbstgenügsamen Gemeinschaften und bestand auf der dialektischen Wechselbeziehung zwischen „kleinen Populationen“ und „totalen Gesellschaften“ (Cole und Wolf 1999). Die Aufgabe bestehe gerade darin, die enge Verflechtung zwischen Prozessen auf regionaler, nationaler oder selbst globaler Ebene zu analysieren. So kam Wolf zu einer sozialwissenschaftlichen Entwicklungstheorie, der es um mehr geht als um technologische Anweisungen für nachholende Modernisierung. Bauerngemeinden ebenso wie Einzelpersonen und Haushalte repräsentieren für Wolf nicht statische „Tradition“, sondern werden als Schnittstellen zwischen lokalen Verhältnissen und übergreifenden Zusammenhängen bis hin zum kapitalistischen Weltmarkt erkennbar.

Seinen entscheidenden Beitrag zur Entwicklungstheorie leistete Wolf mit „Europa und die Menschen ohne Geschichte“ (1986). Die zentrale Aussage lautet: „Unsere Menschenwelt stellt sich als eine vielfältige Totalität miteinander verbundener Prozesse dar”. Er betont, dass wir alle in einem einzigen komplexen Ökosystem leben, worin wir im Verlauf der Geschichte „auf Schritt und Tritt auf … Zusammenhänge stoßen”, dass also abgegrenzte, jeweils für sich stehende Kulturen und Gemeinschaften nur mythologische Konstrukte sind. Auch in der Geschichte der Vereinigten Staaten, des letztinstanzlichen Modells der Modernisierungstheorie, war „ein Ensemble antagonistischer Kräfte“ am Werk, und es handelte sich keineswegs um den „Entfaltungsprozess einer zeitlosen Wesenheit“.

Die Geschichte folgte keiner unausweichlichen Entwicklungsbahn; es gab stets Alternativen. Jede Vorstellung von der menschlichen Geschichte als Triumphzug des Fortschritts ist laut Wolf verfehlt. Genau solche Vorstellungen erkannte Wolf jedoch in den fundamentalen Annahmen jener zersplitterten Disziplinen, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts der wissenschaftlichen Forschung über „Wesen und Vielfalt der menschlichen Gattung“ widmeten. Wolfs Rekonstruktion dessen, was den „Menschen ohne Geschichte“ – so die korrekte Übersetzung des Originaltitels – im Zuge der europäischen Expansion seit dem 15. Jahrhundert widerfahren war, wandte sich damit gegen weit verbreitete Vorstellungen. Im Zentrum steht bei ihm die Rolle von Nicht-Euopäern bei der Schaffung der Welt von heute und damit auch bei der Formung unserer Vorstellungen von Entwicklung.

So erweisen „sich die Menschen, die eine ,eigene‘ Geschichte für sich beanspruchen, und die, denen ihre Geschichte als ,eigene‘ verwehrt worden ist, als Teilnehmer an derselben geschichtlichen Veranstaltung“. Daher ist die Annahme irrig, dass sich Gesellschaften in unterschiedlichen Entwicklungsstadien befänden. Wolf geht es vielmehr um die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Gesellschaftsverhältnisse (Fabian 2007). Die grundlegenden Veränderungen der Moderne betrafen auch „Gruppen, die von Anthropologen als ,primitiv‘ bezeichnet wurden. Die weltumspannenden Prozesse, die durch die europäische Expansion in Gang gesetzt wurden, sind (auch ihre) Geschichte.“

Der Buchtitel „Die Menschen ohne Geschichte“ ist daher ebenso ironisch, wie die Übersetzung von „people“ mit „Völker“ in der deutschen Ausgabe in charakteristischer Weise verfehlt ist. Wolfs Skizze der Welt im Jahr 1400 belegt die vielfältigen Beziehungen, die durch Handel, den Austausch zwischen Viehzüchtern und Ackerbauern, aber auch durch Krieg bestanden. Westeuropa verwandelte sich damals „aus einer Randzone der Alten Welt in ein Zentrum von Reichtum und Macht“. Seit dem 16. Jahrhundert verknüpften England und die Niederlande Handel und Krieg zu einer großen Expansionsstrategie. Diese Veränderung der ganzen Welt zeigt Wolf an vier exemplarischen Fällen: der Schaffung iberischer Kolonien in Amerika, dem nordamerikanischen Pelzhandel, dem transatlantischen Sklavenhandel sowie der Etablierung europäischer Kontrolle in Süd- und Ostasien.

Dabei unterstreicht er die Handlungsperspektive und überwindet so die miteinander verbundenen Sichtweisen der Kolonisierten als grundsätzlich rückständig einerseits und als bloße Opfer der Kolonialmächte andererseits. Die sozialen Verhältnisse, die in „indianischen“ Gemeinschaften in Spanisch-Amerika oder an der westafrikanischen Guinea-Küste im Zeitalter des Sklavenhandels herrschten, waren weit komplexer und von den zeitgenössischen Herrschafts-, Austausch- und Ausbeutungsverhältnissen im Rahmen eines expandierenden Weltmarktes geprägt. Zudem waren Afrikaner und Indianer aktiv an der Gestaltung dieser Zustände beteiligt. Denn auch wenn das Handelssystem auf Westeuropa zentriert war und der Fluss von Edelmetall von Amerika über die Iberische Halbinsel nach Ostasien verlief, so waren die Bauerngemeinden der spanischen Kolonien doch Ergebnis der komplexen, konflikthaften Interaktion zwischen ihnen und den Kolonialbeamten. Auch der Irokesen-Bund in Nordamerika machte durch die Neuorientierung auf Pelzhandel und Kriegführung in einem Zeitalter intensiver britisch-französischer Rivalität im Gebiet der Großen Seen ebenfalls grundlegende Veränderungen durch. Ferner ähnelte die Lebensweise der Prärie-Indianer dem heutigen Klischee vom „Indianerleben“ erst in Folge der tiefgreifenden Veränderungen durch die Ausbreitung von Handel, Pferden und Feuerwaffen. Der transatlantische Sklavenhandel, bei dem Millionen Menschen aus Afrika in die Plantagen der Neuen Welt deportiert wurden, baute auf bestehenden Institutionen afrikanischer Gesellschaften auf.

Das bisherige Ergebnis dieses historischen Prozesses sind laut Wolf die Heraufkunft und die weltweite Expansion des Kapitalismus. Im Gegensatz zu Immanuel Wallerstein und A.G. Frank bezieht Wolf die kapitalistische Produktionsweise dabei streng auf die Herrschaft des Kapitals über die Produktion, nicht einfach auf die Ausbreitung von Marktbeziehungen. Wolf belegt, dass die industrielle Revolution und die Entstehung des Kapitalismus in England Resultate einer spezifischen Konstellation und einer ungewöhnlichen Entwicklung waren. In ihrer Folge wurden Überseebesitzungen zu Rohstofflieferanten für die britische Baumwollindustrie.

Im 20. Jahrhundert sieht Wolf im Anschluss an Rosa Luxemburg im Imperialismus die Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise, durch ihren „Drang nach neuen Rohstoffquellen und nach billigen Arbeitskräften“ neue Formen sozialer Beziehungen hervorzubringen, mit Folgen wie Migration, Proletarisierung und ethnische Segmentierung. Für Wolf werden wie für den großen englischen Historiker E.P. Thompson (1968) Arbeiterklassen nicht allein am Arbeitsplatz „gemacht“. Das unterstreicht die Notwendigkeit multidisziplinärer Ansätze, die kulturelle Faktoren einbeziehen.

Entwicklungstheoretisch bleibt das Werk von Eric Wolf heute noch unausgeschöpft. Das liegt in erster Linie daran, dass seine Konzeption dem Paradigma eines linearen Evolutionismus, das nach wie vor die etablierte Debatte beherrscht, diametral entgegengesetzt ist. Die bisherigen Leistungen dieser Modernisierungsperspektive überzeugen jedoch im Hinblick auf ihren Erklärungswert ebenso wenig wie durch ihre praktische Anwendung. Eric Wolf gehört daher zu jenen Autoren, die es noch zu entdecken gilt.

Reinhart Kößler ist apl. Professor am Institut für Soziologie der Universität Münster und arbeitet am Arnold Bergstraesser Institut, Freiburg.

Tilman Schiel ist Privatdozent für Soziologie an der Universität Bielefeld und vertritt zur Zeit den Lehrstuhl Insulares Südostasien an der Universität Passau.

Schriften von Eric Wolf: 1957:  Closed Corporate Peasant Communities in Mesoamerica and Central Java, in: Southwestern Journal of Anthropology, Vol. 13.

1966:  Peasants. Englewood Cliffs

1969:  Peasant Wars of the Twentieth Century. New York.

1971 (mit Joseph Jorgensen):  Anthropology on the Warpath: An Exchange, in: New York Review of Books, 8. April.

1982:  Europe and the People without History. Berkeley, Los Angeles; deutsch

1986: Die Völker ohne Geschichte: Europa und die andere Welt seit 1400. Frankfurt am Main.

2001 (mit Sydel Silverman):  Pathways of Power: Building an Anthropology of the Modern World. Berkeley.

Weiterführende Schriften: Johannes Fabian (2007):  Memory against Culture. Arguments and Reminders. Durham, NC.

Jane Schneider und Rayna Rapp (Hg., 1995):  Articulating Hidden Histories: Exploring the Influence of Eric R. Wolf. Berkeley.

Teodor Shanin (Hg. 1971): Peasants and Peasant Societies. Harmondsworth.

erschienen in Ausgabe 12 / 2008: Wirkung der Entwicklungshilfe

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