„Große Lücke zwischen guten Absichten und einklagbaren Rechten“

Das Recht auf angemessene Ernährung gilt als verletzt, wenn Menschen dauerhaft unter Nahrungsmangel leiden und ihnen ihre Ernährungsgrundlagen entzogen wurden. Das ist millionenfach der Fall: Rund 920 Millionen Menschen hungern weltweit. Der UN-Sonderberichterstatter Olivier de Schutter schildert Fortschritte und Hindernisse bei der Verwirklichung des Rechtes auf Nahrung.

Im Dezember jährt sich die Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum 60. Mal. Zu den Menschenrechten gehört auch das Recht auf Nahrung. Warum brauchen wir heute noch einen UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung?

Das Recht auf Nahrung wurde lange Zeit als sehr abstrakt betrachtet und ist in seiner praktischen Bedeutung schwer zu verstehen. Seit dem Welternährungsgipfel 1996 wurden eine Reihe von Initiativen unternommen und Dokumente erarbeitet, so dass es nun besser fassbar ist. Deshalb hat der UN-Sonderberichterstatter eine nützliche Rolle. Er hat ein Instrument an der Hand, um einen Ansatz zur Hungerbekämpfung zu propagieren, der nicht nur darauf basiert, die Produktion von Nahrungsmitteln zu steigern.

Wie kann ein Kleinbauer, der nicht genug zu essen hat, sein Recht auf Nahrung durchsetzen?

Die Regierungen müssen entsprechende Gesetze verabschieden. Sie müssen klären, in welchem Zeitrahmen welche Maßnahmen ergriffen werden, um Hunger und Mangelernährung zu bekämpfen und welche Rechte Opfer von Nahrungsmangel haben. In der Tat klafft jedoch eine große Lücke zwischen den guten Absichten und einklagbaren Rechten, die es Opfern von Verletzungen des Rechts auf Nahrung erlauben, ihre Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen.

Gibt es Länder, die das Recht auf Nahrung bereits in nationales Recht umgesetzt haben?

Die spektakulärsten Beispiele sind Brasilien und Indien. Brasilien hat einen Rechtsrahmen für Nahrungssicherheit geschaffen, der es den Bürgern erlaubt, ihre Regierung zur Rechenschaft zu ziehen, falls sie bei der Hungerbekämpfung versagt. Außerdem ist ein Beratungsgremium eingerichtet worden, das kontinuierlich die Arbeit der Regierung in diesem Bereich überwacht und bewertet. Das gewährleiset eine hohe Transparenz.

Indien besitzt ein sehr gut entwickeltes System der Nahrungsreserven auf lokaler Ebene. Die Gesetze gestatten es den Bürgern, von der Regierung zu verlangen, diese Reserven zu verteilen, wenn es an Nahrung mangelt und eine Hungersnot droht. Regierungen und lokale Verwaltungen, die diese Nahrungsmittelreserven nicht angemessen verwenden, können verklagt werden. Indien hat außerdem ein Programm, bei dem bestimmte Tätigkeiten mit Lebensmitteln vergütet werden (Food for Work). Es garantiert jedem Bürger mindestens 100 Tage Arbeit im Jahr. Das ist ein Sicherheitsnetz für die Inder in Zeiten von Arbeitslosigkeit und Preissteigerungen.

Welche Art von Politik verletzt das Recht auf Nahrung?

Es gehört zu den Mindestpflichten der Regierungen zu untersuchen, wie sich etwa die Handelspolitik auf das Recht auf Nahrung auswirkt. Das Recht auf Nahrung ist nicht nur das Recht, versorgt zu werden, sondern auch, sich selbst versorgen zu können. Wenn beispielsweise die Lebensgrundlagen von Bauern oder Fischern zerstört wurden, geht es nicht darum, Lebensmittel auf dem internationalen Markt zu kaufen und zu verteilen. Das ist keine Lösung, denn dadurch würde das Land in Zukunft sehr anfällig für Preisschwankungen. Große Teile der Bevölkerung wären auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Die Handelspolitik verletzt das Recht auf Nahrung, wenn sie Lebensgrundlagen zerstört und den Betroffenen keine Alternativen geboten werden, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Leider wurde in den vergangenen Jahren in einigen afrikanischen Ländern solche schädliche Politik gemacht.

Wie wird sich die Finanzkrise auf die Nahrungsmittelkrise auswirken?

Es wird einfacher sein, über die Nahrungsmittelkrise zu sprechen, wenn die globale Finanzkrise bewältigt worden ist. Dann kann man den Bedürfnissen wieder Vorrang geben. Andererseits bietet die Krise eine Chance. Viele Regierungen sehen jetzt die Notwendigkeit, Märkte zu regulieren, einzugreifen, um die Preise zu stabilisieren. Diese Forderungen werden jetzt eher gehört als noch vor einigen Monaten. Daher bin ich optimistisch, dass die globale Finanzkrise einen Paradigmenwechsel einleiten wird, der dazu beitragen wird, den Hunger in der Welt zu bekämpfen.

Hat die Entwicklungszusammenarbeit die ländliche Entwicklung vernachlässigt?

Ja, auf jeden Fall. Dieser Fehler wurde inzwischen erkannt. Die Weltbank hat in ihrem Weltentwicklungsbericht 2008 über Landwirtschaft Selbstkritik geäußert. Sie versucht nun, diesen Sektor besonders zu unterstützen. Die überwältigende Mehrheit der Armen in den Entwicklungsländern lebt auf dem Land. Investitionen in die Landwirtschaft sind deshalb viel wirksamer, um Armut zu reduzieren, als Investitionen in Dienstleistungen oder in die Industrie. Die Weltbank schätzt, dass jeder Dollar, der in die Landwirtschaft investiert wird, den gleichen Effekt bei der Armutsbekämpfung hat wie zweieinhalb Dollar in andere Sektoren. Bislang sind allerdings die nationalen Budgets für Landwirtschaft und auch der Anteil der offiziellen Entwicklungshilfe (ODA) für die Landwirtschaft, der bei etwa fünf Prozent liegt, viel zu niedrig. Ich bin besorgt über den Mangel an politischem Willen, in diesen Bereich zu investieren.

Welche Bedeutung haben die vor vier Jahren verabschiedeten freiwilligen Richtlinien der UN-Ernährungsorganisation FAO für das Recht auf Nahrung in der Praxis?

Diese Richtlinien wurden von 187 Regierungen in zweieinhalb Jahren im Rahmen der FAO ausgehandelt. Sie besitzen daher eine hohe Legitimität. Es handelt sich um eine Sammlung von Good-Practice-Beispielen, die Regierungen zur Nachahmung empfohlen werden. Die Richtlinien sind gut umzusetzen, etwa bei Landreformen, der Gesetzgebung, der Entwicklungszusammenarbeit und beim Welthandel. Ich glaube, in Zukunft werden sie noch systematischer genutzt werden, beispielsweise bei Wirkungsanalysen und Gesetzgebungsverfahren. Vier Jahre sind keine lange Zeit, um Richtlinien in die Tagespolitik umzusetzen.

Wie beurteilen Sie die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die die EU mit Entwicklungsländern abschließen will, hinsichtlich der Nahrungssicherung?

Ich halte die Abkommen für problematisch, etwa in Hinblick auf die Bedingungen, unter denen sie ausgehandelt wurden. Sie basieren auf der Idee, die Märkte zu öffnen und gleichzeitig Hilfe für die Landwirtschaft in Afrika zu leisten, damit sie wettbewerbsfähig mit der EU wird. Aber ich halte die Reihenfolge für falsch. Zunächst sollten wir die Landwirtschaft in Afrika stärken, und erst dann können wir das Risiko unternehmen – denn es handelt sich um ein Risiko –, die sechs Regionen, mit denen die Abkommen ausgehandelt werden, zu zwingen, ihre Märkte zu öffnen.

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich viele Länder dem Handel geöffnet. Im Ergebnis wurde ihre Landwirtschaft schwer geschädigt durch die Einfuhr von billigen Nahrungsmitteln. Teilweise lag das an den Subventionen, die den Exporteuren in den Industrieländern gezahlt werden,  aber zum Teil auch an der geringen Wettberbsfähigkeit der lokalen Produzenten im Empfängerland. Ihnen fehlen die notwendige Infrastruktur, Machinen und technisches Know-how. Die Abkommen ziehen keine Lehren aus diesen Erfahrungen.

Das Gespräch führte Charlotte Schmitz.

Olivier De Schutter ist seit Mai 2008 Nachfolger von Jean Ziegler als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Der 40-jährige Juraprofessor aus Belgien war zuvor Generalsekretär der „Internationalen Vereinigung der Ligen für Menschenrechte“ (FIDH).

erschienen in Ausgabe 12 / 2008: Wirkung der Entwicklungshilfe
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