Von Katja Dorothea Buck
Vor 30 Jahren sind sie aus ihrer Heimat geflohen. Jetzt wollen aramäische Christen in die Südosttürkei zurückkehren, um ihr kulturelles Erbe zu bewahren. Der angestrebte EU-Beitritt der Türkei nährt die Hoffnung, dass die Regierung der Diskriminierung religiöser Minderheiten ein Ende setzt. Doch Repressionen seitens lokaler Behörden sind noch immer an der Tagesordnung.
Gevriye Aslan hat einen Traum. Der 52-jährige Familienvater aus Göppingen will das christliche Erbe in der Südosttürkei vor dem Untergang bewahren. Deswegen baut der aramäische Christ jetzt ein Haus in dem Dorf, aus dem er vor 30 Jahren geflohen ist. Im nächsten Sommer will er zusammen mit seiner Frau dorthin zurückkehren. „Einige Kollegen haben mich für total verrückt erklärt“, sagt Aslan und lacht. „Aber was soll ich machen“, fährt er fort und hebt fast entschuldigend die Schultern. „Es geht doch um meine Heimat.“
Aslan stammt aus der Gegend um den Tur Abdin unweit der Grenze zu Syrien. 1978 floh er wie viele andere Christen aus der Region nach Deutschland. „Als Minderheit hatten wir weder beruflich noch sonst eine Chance“, sagt er. Der Südosten der Türkei war damals zudem Schauplatz der blutigen Auseinandersetzungen zwischen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und dem türkischen Militär. „Wir saßen zwischen den Stühlen“, sagt er.
Die Region um den Tur Abdin – den Berg der Knechte – ist eines der ältesten christlichen Siedlungsgebiete. Bereits im dritten Jahrhundert bekannte sich die Mehrheit der Bevölkerung zum christlichen Glauben. Zahlreiche Klöster und kostbare Evangeliare zeugen von der Jahrhunderte langen Tradition. Die syrisch-orthodoxe Kirche, die zur Familie der altorientalischen Kirchen gehört, hatte dort lange Zeit ihren Sitz. Doch vor 30 Jahren schien das Ende des christlichen Lebens am Tur Abdin eingeläutet. Während Anfang der 1970er Jahre noch mehr als 200.000 Christen in dem Gebiet nahe der syrischen Grenze lebten, sind es heute noch rund 2000 – zu wenige, um das Erbe zu bewahren.
Das ist denen, die heute im Exil leben, sehr wohl bewusst. „Ich war 2001 zum ersten Mal wieder in Arbo, meinem Heimatdorf“, erzählt Aslan. Als er die große Kirche betreten habe, habe er vor Zorn laut geschrien. Alles sei zerstört gewesen. Wie in einem Schweinestall habe es ausgesehen „Die Bischofsgräber waren aufgebrochen und leer“, sagt er und schüttelt den Kopf, als könne er noch immer nicht fassen, was aus seiner Heimat geworden ist. Arbo war früher ein großes Dorf mit sieben Kirchen – eine von ihnen wird auf das Jahr 370 datiert. Vor vierzig Jahren lebten noch 52 Familien in Arbo. 1989 verließ die letzte Familie das Dorf. Zwei Menschen waren kurz hintereinander ermordet worden. Von wem, ist bis heute nicht geklärt. Fast 20 Jahre lang war das Dorf verlassen.
Heute werden dort acht neue Häuser gebaut. Seit einigen Jahren schmieden immer mehr Exil-Tur Abdiner Rückkehrpläne. In Kafro, dem Nachbarort von Arbo, wohnen bereits 13 Familien dauerhaft. In Sare leben wieder acht aramäische Familien, in Midin sechs. Jedes Jahr sollen etwa 15 Familien in die christlichen Dörfer in der Südosttürkei zurückkehren. Manche für immer, andere leben nur in den Sommermonaten dort und behalten vorerst ein Standbein im sicheren Exil. Das ist zwar noch kein Massentrend, aber die einzige Rückkehrbewegung von Christen in den Nahen Osten. Überall sonst in der Region hält der Exodus der Christen an, sei es in Palästina, im Libanon oder im Irak, wo seit dem Einmarsch der amerikanischen Truppen und ihrer Verbündeten vor fünf Jahren mehr als eine halbe Million der vormals 800.000 Christen geflohen ist.
Im August dieses Jahres ist Familie Demir nach Kafro an den Tur Abdin gezogen. Als Kinder waren der heute 42-jährige Nail und seine 36 Jahre alte Frau Atiye nach Deutschland gekommen. Heute haben sie selbst drei Kinder im Alter von 13 bis 18 Jahren. In einem Vorort von Göppingen hatte sich die Familie eine sichere Existenz aufgebaut, die sie nun für einen Neuanfang mit zahlreichen Risiken aufgegeben hat. „Die Rückkehr hat sich aber auf alle Fälle gelohnt“, sagt Nail Demir. Im Oktober ist der Familienvater noch einmal nach Deutschland auf Besuch gekommen. „Natürlich ist das alles nicht einfach“, räumt er ein. Man müsse aber sehen, was bisher erreicht worden ist. Wie viele Rückkehrer treibt auch Nail Demir die Verantwortung der eigenen Tradition gegenüber an. „Wenn wir in Deutschland bleiben, wird die aramäische Kultur sterben“, sagt er. Die Befürchtung ist nicht von der Hand zu weisen. Nur selten in der Geschichte haben Auswanderer im Exil ihre Kultur langfristig bewahren können. Meistens beginnt bereits in der zweiten Generation die Assimilation an die Exilgesellschaft.
Ausgelöst hat den Rückkehrtrend 2001 der damalige türkische Ministerpräsidenten Bülent Ecevit. Er hatte die Christen im Exil offiziell eingeladen, wieder in die alte Heimat zurückzukommen. Die Türkei hatte sich auf den Weg in die Europäische Union (EU) gemacht und wollte zeigen, dass sie religiösen und ethnischen Minderheiten gegenüber offen ist. Die Beitrittsbestrebungen Ankaras nähren nach wie vor die Hoffnungen der Rückkehrer, dass das Christentum in ihrer Heimat nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft hat.
Offiziell erfüllt die Türkei mittlerweile die Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen. Das Parlament hat entsprechende Gesetze verabschiedet. Die Reformen sind allerdings noch nicht auf allen Ebenen umgesetzt. Ethnische und religiöse Minderheiten sind nach wie vor Repressionen seitens der lokalen Behörden ausgesetzt. Viele Rückkehrer am Tur Abdin müssen derzeit beispielsweise aufwändig auf dem Katasteramt belegen, dass die Felder, die ihre Familien über Jahrhunderte bewirtschaftet haben, auch wirklich ihnen gehören. Es ist offen, ob die Christen am Ende ihr Recht erhalten.
Hinzu kommen Probleme mit denen, die von der damaligen Massenflucht profitiert haben. Kurdische Nachbarn haben sich in einigen verlassenen Dörfern niedergelassen und bestellen seither die Felder der Christen. Die Lage im Gebiet Tur Abdin ist alles andere als stabil. Das Auswärtige Amt warnt vor Reisen in die Region. Die Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen berichtet, dass nach wie vor verschiedene Gruppen in der Südosttürkei Stimmung gegen Christen machten, darunter auch Sicherheitskräfte und Teile der Polizei. Und erst im Juni dieses Jahres kam das Verwaltungsgericht Stuttgart zu dem Schluss, dass man eine 72-jährige Christin nach elf Jahren Asyl in Deutschland nicht wieder in ihre Heimat am Tur Abdin zurückschicken dürfe. Nach wie vor gebe es dort Übergriffe auf syrisch-orthodoxe Christen, heißt es in der Urteilsbegründung.
Gevriye Aslan weiß nur zu genau, dass er sich in Arbo nicht in ein gemachtes Nest setzen wird. Bei einem Besuch vor drei Jahren ist er nur knapp einem Anschlag entgangen. Auf einer Rundfahrt mit lokalen Politikern und Bekannten war auf der Straße nach Kafro eine Bombe hochgegangen, nur wenige Meter von dem Auto entfernt, in dem er saß. Doch statt kleinlaut aufzugeben, fühlte er sich in seinem Entschluss zur Rückkehr bestärkt. „Wenn wir jetzt aufgeben, ist mit dem christlichen Leben am Tur Abdin für immer Schluss.“
Katja Dorothea Buck ist Religionswissenschaftlerin und Journalistin in Tübingen.