Der schmächtige taxista hat Mühe, die Balance zu halten. Schwer tritt er in die Pedale. Auf dem Gepäckträger seines Fahrradtaxis sitzt ein Passagier, der sich an den Hüften seines Fahrers festklammert. Die Tour führt an der Zentralbibliothek vorbei, einem spektakulären Gebäude in Bauhaus-Tradition. Nächster Halt ist das imposante 60er-Jahre-Hotel Chuabo. Dann geht es weiter zur frisch renovierten Kathedrale „Sagrada Família“ aus der Zeit der portugiesischen Eroberer. In Quelimane, der Hauptstadt der zentral gelegenen Provinz Zambezia, bewegen sich selbst die Touristen per Fahrrad. Die Fahrräder und ihre massenhafte Nutzung sind die eigentliche Attraktion.
Seit einem halben Jahr verfügt das 400.0000 Einwohner zählende Quelimane, bekannt als Afrikas „Stadt des Fahrrades“, sogar über einen innerstädtischen Radrundweg. Er führt entlang der Straße der Nationalen Freiheitshelden über die Avenida Eduardo Mondlane und die des 1. Juli bis zurück zum Ausgangspunkt, der Kathedrale.
Aber auch abseits der ausgewiesenen ciclovias wuseln überall Fahrräder herum, sehr zum Leidwesen mancher Autofahrer, die sich über die Fahrweise der Radler beschweren. „Es vergeht keine Woche ohne Unfall mit denen“, klagt der Taxifahrer Januário Anjola. Vor allem wurmt ihn, dass die Schuld daran immer den Autofahrern angelastet werde.
Diese Anmutung von Amsterdam, Kopenhagen oder Münster gibt es in Mosambik und vermutlich in ganz Afrika nur einmal: in Quelimane, 1500 Kilometer nördlich der Hauptstadt Maputo. Dass sie die Stadt des Fahrrades geworden ist, hat viele Gründe. Zur Zeit der Kolonialherren bis 1975 und auch noch in der jungen Republik hatte ein Fahrrad einen hohen Wert, vergleichbar mit Lackschuhen oder einem mobilen Radiogerät. Genutzt wurde es vor allem zum Transport von Waren. Vor 15 Jahren wurde dann die Nutzung des Fahrrades in Quelimane zum Massenphänomen, weil sie preislich günstiger wurden und junge Männer dort sie zunehmend als günstigen Taxiersatz anboten. Doch auch Frauen sieht man damit herumkurven, wenn auch nicht als Taxifahrerinnen.
Die Radtaxifahrer leben vom Personentransport
Nach wie vor sind Zweiräder auch die Lastesel für die Kurzstrecke. Vom aufgerollten Blechdach bis zu Bierkistenstapeln und Brennholz ist alles auf und an Rädern zu sehen, was irgendwie transportabel ist. Aber vor allem diene das Rad heute dem Personentransport, sagt der örtliche Bibliotheksdirektor Janota Manuel. Davon könnten die Radtaxifahrer leben. Eine Fahrt koste nicht viel – 15, 20 oder 30 Meticias (22-45 Eurocent). „Ich benutze jeden Tag das Fahrrad“, sagt Manuel, „sowohl wenn ich das Haus verlasse als auch wenn ich zurückkomme.“ Allerdings tritt er nicht selbst in die Pedale, sondern nutzt ein taxi de bicicleta.
Nach Behördenangaben gibt es in Quelimane mittlerweile über 5000 solcher Fahrradtaxis. Umgerechnet 80 Euro hat der 35-jährige Xavier Nelinho für sein Radtaxi ausgegeben. Infolge dieser Investition verdient der dreifache Vater heute drei bis vier Euro am Tag. Aufs Jahr gerechnet ist das mehr als das mosambikanische Durchschnittseinkommen. Doch bei Temperaturen von mehr als 30 Grad ist der Job knüppelhart, zumal die chinesischen und indischen Importräder häufig kaputt sind, wie Nelinho und einige seiner Kollegen berichten.
Autor
Stefan Ehlert
ist Journalist in Frankfurt am Main. Er hat von 2018 bis 2023 in Mosambik gelebt und von dort berichtet.Deshalb hat sich rund um Quelimanes Fahrradtaxis ein Netz aus Händlern, Ersatzteillieferanten und vor allem Werkstätten etabliert. „Für uns sind die Fahrräder wichtig, weil wir sonst gar keine Arbeit hätten“, sagt der 28-jährige Fahrradmechaniker Manuel Salessa Vinte. Aus seiner Sicht spiegeln die massenhaft verbreiteten Fahrräder in seiner Stadt vor allem die drückende Armut. Es könne sich bislang eben nur ein kleiner Teil der jungen Männer ein Moped leisten, um damit Taxidienste anzubieten, auch wenn sie es kaum erwarten könnten, sich zu motorisieren.
Kaum Investitionen, kaum staatliche Förderung, kaum Autos
Ein wohlhabender Bürger Quelimanes, ein Händler, der über mehrere große Geländewagen verfügt, aber namentlich nicht genannt werden möchte, stimmt dem Fahrradmechaniker zu. Die Provinzhauptstadt sei geografisch und ökonomisch abgehängt, politisch sowieso, weil es eine Hochburg der Opposition sei. Deshalb gebe es kaum Investitionen, kaum staatliche Förderung, nur wenige Autos und noch weniger Lastwagen, noch nicht einmal Durchgangsverkehr, denn der werde über die weit entfernte Nationalstraße geleitet. Fast 50 Jahre nach dem Ende der Kolonialzeit ist die Deindustrialisierung Mosambiks tatsächlich kaum irgendwo so deutlich abzulesen wie in Quelimane. Das wohl größte Beispiel dafür ist die imposante alte Ziegelei „Ceramica Montegiro“, wo einst Hunderte Menschen beschäftigt waren.
Quelimanes Bürgermeister Manuel de Araújo widerspricht jedoch der These, der Radverkehr in seiner Stadt sei vor allem ein Armutsphänomen, das es zu überwinden gelte. Er sagt, er sehe ihn sogar als Vorteil an, nutze ihn als Werbemittel. Man könnte auch sagen, Araújo macht aus der Not eine Tugend und setzt auf das, was die Kommune auszeichnet: Gerade erst wurde sie zur „Afrikanischen Stadt des Sports“ erhoben, im Vorjahr gewann sie einen Preis der Vereinten Nationen und etwas Geld für eine fahrradfreundliche Infrastruktur. Araújo sieht das Fahrrad als zentrales Element einer umweltfreundlichen und sozial gerechteren Stadtentwicklung. Zum Interview erscheint er mit Krücken – Folge eines Fahrradunfalls, als er mit dem US-Botschafter durch seine Stadt radelte. Er lade seine Gäste immer zu einer Tour mit dem Rad ein, sagt er, um deutlich zu machen, dass das vermeintliche Verkehrsmittel der Armen selbst für Staatsgäste und Prominente gut genug sei.
Der 53-jährige Araújo gehört zum Vorstand der Oppositionspartei Renamo und sitzt für sie in der Nationalversammlung, in der die seit 1975 regierende Frelimo das Sagen hat. Inzwischen wird Araújo sogar als möglicher Oppositionsführer gehandelt. Als er 2011 erstmals die Wahlen in Quelimane gewann, gab es dort keine Verkehrsampel und keinen Zebrastreifen. Ausgehend von Studien über die Verkehrsströme in seiner Stadt kam Araújo zum Schluss, dass Fußgänger und Radfahrer deutlich zu kurz kamen: „Die Autofahrer sind von der fixen Idee besessen, dass die Straße für sie reserviert sei. Aber die Mehrheit sind Fußgänger, dann kommen die Radfahrer und dann erst die Autos.“
Maputo steuert auf Staus zu wie in Kairo oder Lagos
Das ist auch in der Hauptstadt Maputo so. Dort wächst die Zahl der privaten Pkws, ohne dass die Infrastruktur darauf vorbereitet wäre. Maputo steuert auf Staus zu wie in Kairo oder Lagos. Obwohl in Mosambik die Zahl der Autos bei 45 je 1000 Einwohner liegt, sterben dort im Straßenverkehr jedes Jahr so viele Menschen wie in Deutschland mit bald 600 Pkw auf 1000 Einwohner, vor allem im Ballungsraum Maputo. Dort leben rund drei Millionen Menschen. Dennoch gibt es keine einzige Busspur und keinen Radweg.
Noch sei Zeit, den Großraum Maputo aufs richtige Gleis zu setzen, sagt Joaquín Romero de Tejada, Spezialist für nachhaltige Mobilität der staatlichen Verkehrsplanungsagentur Agência Metropolitana do Transporte (AMT). Es gebe aber zwei große Probleme. Zum einen breite sich die Metropole ungebremst in der Fläche aus. Jeder, der könne, baue sich ein Haus oder eine Hütte im Umland, ohne viel daran zu denken, wie er oder sie zur Arbeit in die Stadt komme. Zum anderen sei die mosambikanische Gesellschaft bis heute sehr hierarchisch strukturiert. Wer oben sitze, sei im Besitz eines möglichst großen und teuren Autos. „Wenn ich ein Auto besitze, bin ich im öffentlichen Raum privilegiert und fühle mich gegenüber allen anderen Transportmitteln überlegen“, hat Romero beobachtet. Natürlich sei es antiquiert, auf das Auto zu setzen. Aber keiner traue sich, den Autobesitzern zu sagen, dass man lieber kein Auto haben sollte. Und wer keines habe, der hoffe darauf, eines zu besitzen. Das ist in Quelimane kaum anders als in Maputo, nur sind in Quelimane die Wege kürzer und kaum jemand kann sich ein Auto leisten.
Ein erster Versuch, auf den breiten Avenidas in Maputo eine Busspur zu markieren, scheiterte 2016, angeblich am Geldmangel von Stadt und Regierung. Selbst bei der 2022 fertiggestellten vierspurigen Umgehungsstraße unterblieb jeder Versuch der Regierung, dem Autoverkehr Platz für Busse oder einen Radweg wegzunehmen. Verkehrsminister Magala will nun in Maputo mit geschenktem Geld der Weltbank wenigstens zwei erste, exklusiv für Busse vorgesehene Fahrspuren einführen, dazu die ersten Radwege. 2026 soll es so weit sein. Kostenpunkt: Rund 250 Millionen US-Dollar.
Radfahrer bangen um ihr Leben
Von Verhältnissen wie in Quelimane sei Maputo jedenfalls weit entfernt, klagt die Radenthusiastin Mariig Hamon in Maputo. Sie arbeitet als Lehrerin an einer internationalen Schule. Die Franco-Kanadierin hat mit dem Tourenrad sogar schon das bergige Ruanda in Zentralafrika bereist. Dort würden Radfahrer und -fahrerinnen respektiert. Überall gebe es Radwege. In Maputo dagegen bange sie um ihr Leben: „Es ist sehr gefährlich, ich schreie die Autofahrer oft an, weil sie mich nicht wahrnehmen. Sie denken, Radfahrer sind nicht Teil des Verkehrs. Sie denken, nur sie selbst seien der Verkehr und ein Rad habe auf der Straße nichts verloren.“
Dabei gibt es sogar eine Fahrradfabrik in Maputo namens Mozambike. Doch sie produziere vor allem für den Markt auf dem Land und baue aus importierten Einzelteilen stabile, langlebige Allzweckräder, erzählt ihr Manager Élio Pais. Die unverwüstlichen und eigens für Mosambik entwickelten Packesel tragen bis zu 200 Kilo Ladung auf ihren verstärkten Gepäckträgern. Zum Preis von 10.000 Meticais, umgerechnet mehr als 140 Euro, könnte sie sich aber in Quelimane kaum jemand leisten. Oft unterstützen Geber und Projektpartner die Verbreitung der Mozambike-Räder. Für die wenigen Sportradler in Maputo sind die 20 Kilogramm schweren Räder ohne Gangschaltung ohnehin nicht attraktiv.
Die Stunde dieser Sportlerinnen und Sportler schlägt vor dem Morgengrauen, wenn sie ab fünf Uhr in kleinen Gruppen die Küstenstraße und die Ringautobahn entlangpreschen. Bis die morgendliche Rushhour einsetzt, sind sie schon wieder zurück. Oft dabei ist der 28-jährige Imran Yazid, Vorsitzender der Vereinigung der Fahrradfahrer in Maputo. Schon sein Vater war Sportradler, doch er verlor auf einer Tour sein Leben, als ihn ein Auto erfasste. Jahrelang fasste Imran Yazid kein Fahrrad mehr an, bis er das Trauma überwunden hatte. Er sei sich aber im Klaren darüber, dass es immer ein Risiko geben werde: „Du trägst einen Helm, fährst am Straßenrand, hast Licht, Reflektoren – aber am Ende des Tages bleibt ein Risiko, dass du einen Unfall hast.“ Manche Rennradfahrer haben sogar teure Radarwarngeräte ans Rad geschraubt, um den von hinten kommenden Verkehr wahrnehmen zu können.
Das Rad zu einem Massenphänomen machen – so wie in Quelimane
Yazid sagt, sein Ziel sowie das seiner Mitstreiter und Mitstreiterinnen sei, das Fahrrad in Maputo zu einem Massenphänomen zu machen, so wie in Quelimane. Angesichts der zunehmenden Staus sei es an der Zeit, Alternativen zu nutzen und dabei auch noch etwas für die eigene Gesundheit zu tun. Die Aktivisten setzen dabei geduldig auf kleine Schritte: Mal sonntags eine Straße sperren für Skater, Radler und Spaziergänger – mit Genehmigung der Behörden. Oder in den Schulen die Werbetrommel rühren und dem Nachwuchs Radfahren beibringen. Mit einem ersten Radweg rechnet Yazid allerdings frühestens in fünf Jahren.
In Quelimane sah es zeitweise danach aus, als würden die Uhren wieder zurückgestellt. Nach den von massiven Fälschungsvorwürfen geprägten Kommunalwahlen vom 11. Oktober 2023 wurde Manuel de Araújo, der überaus populäre Bürgermeister, zunächst offiziell für abgewählt erklärt. Erst die Justiz setzte ihn wieder ins Amt ein, weil die Belege für den vermeintlichen Sieg des Frelimo-Kandidaten dem Gericht nicht ausreichten. Quelimanes Liebesgeschichte mit dem Fahrrad kann also fortgesetzt werden. An Ideen, sagt Araújo, fehle es ihm nicht. Eines seiner Projekte: Leuchtwesten und Fahrradhelme einzuführen, damit die taxistas de bicicleta besser geschützt seien, auch bei Nacht.
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