Gewaltkonflikte nehmen in vielen Teilen der Welt zu. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel und der israelischen Offensive im Gazastreifen droht ein größerer Krieg im Nahen Osten. Im Kaukasus hat Aserbaidschan Ende September 2023 die umstrittene Enklave Bergkarabach zurückerobert und schätzungsweise 150.000 ethnische Armenier zur Flucht aus ihrer historischen Heimat gezwungen. In Afrika geht der Bürgerkrieg im Sudan unvermindert weiter, in Äthiopien flackern erneut Konflikte auf und im Niger hat im Juli das Militär die Macht übernommen – das war der sechste Staatsstreich in der Sahelzone und Westafrika seit 2020.
Das Internationale Institut für Friedensforschung Stockholm (SIPRI) hat Daten des Uppsala Conflict Data Program analysiert. Danach sind die Anzahl, Intensität und Dauer von Kriegen auf dem höchsten Stand seit dem Ende des Kalten Krieges. Der Studie zufolge gab es im Jahr 2022 weltweit 55 aktive Kriege mit einer durchschnittlichen Dauer von acht bis elf Jahren – ein erheblicher Anstieg gegenüber 33 Kriegen von durchschnittlich sieben Jahren Dauer im Jahr 2012. Die Zahl der Kriege ist zwischen 1990 und 2007 zurückgegangen, aber laut diesen Daten seit 2010 wieder angestiegen. Auch die Zahl der von Kriegen Betroffenen ist auf dem höchsten Stand seit Mitte der 1980er Jahre.
Das letzte international ausgehandelte, umfassende Abkommen zur Beendigung eines Krieges liegt mehr als ein Jahrzehnt zurück. Mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine sind Kriege hoher Intensität auch nach Europa zurückgekehrt. Und mit den Kriegen hat auch das von ihnen verursachte menschliche Leid stark zugenommen. Anfang 2023 hat die Zahl der Vertriebenen mit weltweit 108 Millionen Menschen einen neuen traurigen Rekord erreicht.
Die Art der Konflikte ändert sich
Es hat mehrere Gründe, dass Kriege häufiger werden und schwerer zu beenden sind. Einer ist, dass sich die Art der Konflikte ändert. In den Kriegen des 21. Jahrhunderts kämpfen häufig Staaten gegen bewaffnete Gruppen, die unterschiedlichste Ziele haben, über relativ moderne Waffen und Technologie verfügen und mit Rohstoffen oder kriminellen Geschäften Geld einnehmen. Komplexe Kriege mit zahlreichen Parteien sind nach dem Zerfall der Sowjetunion zur Norm geworden – das binäre Ordnungsprinzip des Ost-West-Konflikts, das vorher viele Kriege geprägt hatte, gilt nicht mehr. In jüngster Zeit werden Kriege und Bürgerkriege auch zunehmend internationalisiert. Länder wie Russland, Saudi-Arabien, die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und die USA werden regelmäßig indirekt oder direkt in fremde Kriege hineingezogen, wie man im Nahen Osten und in Afrika sieht. Je mehr lokale und internationale Parteien aber in Kämpfe verwickelt sind, desto schwieriger sind sie zu beenden.
Die Vereinten Nationen (UN), die früher regelmäßig in Konflikten vermittelten, haben an Einfluss verloren – das ist eine Folge des verstärkten geopolitischen Wettbewerbs zwischen mächtigen Staaten. Besonders betroffen ist der UN-Sicherheitsrat. Er ist zunehmend gelähmt durch die wachsenden Rivalitäten zwischen den USA, Russland und China sowie eine immer mehr an bloßen Gegengeschäften orientierte internationale Politik. Die Blockade des Sicherheitsrats bedeutet, dass die UN weder Lösungen anbieten noch Kriegsverbrechen oder Aggressionen ahnden können.
So sind Mandate des UN-Sicherheitsrats für friedenserhaltende Maßnahmen sowie Übergangsteams seltener geworden und häufig kürzer befristet. UN-Gesandte und Friedenstruppen haben bei Kriegsparteien Einfluss und Glaubwürdigkeit eingebüßt. Im Juni 2023 beantragte zum Beispiel Mali den Abzug der langjährigen UN-Friedenstruppe nach Spannungen zwischen der Regierung und der Mission, unter anderem über ihre Rolle und ihr Mandat. Die rivalisierenden Warlords im Sudan weigerten sich, mit dem deutschen UN-Sondergesandten Volker Perthes zu sprechen, bis dieser im September zurücktrat. Der Leiter der Hauptabteilung Friedenssicherungseinsätze bei den UN, Jean-Pierre Lacroix, hat festgestellt, UN-Missionen könnten aufgrund der Meinungsverschiedenheiten im Sicherheitsrat nicht mehr „das ultimative Ziel der Friedenssicherung“ erreichen und dauerhafte politische Lösungen entwickeln, sondern müssten sich mit Zwischenzielen wie dem Erhalt von Waffenstillständen zufriedengeben.
Kriege in fernen Ländern – für den Westen oft unwichtig
Westliche Länder haben sich früher mit ihrem politischen Gewicht für Friedenssicherung stark gemacht – vor allem EU-Mitgliedstaaten unter Führung von Frankreich und Deutschland sowie Großbritannien und die USA. Nun sehen unter dem Druck der Serie globaler Krisen sowie neuer politischer Prioritäten viele Entscheidungsträger in Europa und den USA nur noch wenig Sinn in militärischen Interventionen oder in hohem politischem Einsatz für Kriege in fernen Ländern, die strategisch wenig bedeutsam scheinen. Man konzentriert sich stattdessen darauf, die Folgen wie Flüchtlingsströme und grenzüberschreitenden Drogen- und Waffenschmuggel zu managen, statt deren Ursachen zu beseitigen.
Als Folge beschränken sich UN-Interventionen oft auf Deeskalation oder leiten bestenfalls fragile politische Prozesse ein, an deren Erfolg kaum jemand glaubt. Unter vier Augen sagen erfahrene Vermittler und Diplomaten, dass die Ziele internationaler Vermittlungsbemühungen sich jetzt oft stillschweigend auf bilaterale Absprachen über kurzfristige Entspannung oder auf begrenzte Ziele beschränken wie das Abkommen von 2022 zum Export ukrainischen Getreides über das Schwarze Meer. UN-Vermittler haben kaum noch Bedeutung; sie werden in Verhandlungen an den Rand gedrängt und es fehlen Friedensabkommen und politische Übergangsprozesse, in denen sie eine tragende Rolle spielen könnten. Auch andere Instrumente der Friedenskonsolidierung wie inklusiver politischer Dialog, Übergangsjustiz und Reformen des Sicherheitssektors haben ohne Verankerung in politischen Friedensprozessen keine Aussicht auf Erfolg.
Autoren
Peter Salisbury
ist außerordentlicher Professor an der School of International and Public Affairs der Columbia University.Vielerorts haben westliche Diplomaten stillschweigend die Suche nach dauerhaften Konfliktlösungen eingestellt. Besonders im Nahen Osten und in Nordafrika mangelt es an internationalen Bemühungen um langfristige Lösungen. Zurzeit ist der Bürgerkrieg im Jemen nach Verhandlungen zwischen den Huthi-Rebellen, die 2014 die Hauptstadt Sanaa einnahmen, und Saudi-Arabien, das 2015 intervenierte, um sie von dort zu vertreiben, fast zum Stillstand gekommen. Doch die UN und die jemenitischen Rivalen der Huthis sind von den Verhandlungen ausgeschlossen. Viele Jemeniten, darunter die Expertin Nadwa Al-Dawsari vom Middle East Institute, gehen davon aus, dass die Kämpfe früher oder später erneut aufflackern oder ein Zustand von „weder Krieg noch Frieden“ eintritt, wenn weiter nur Huthis und Saudis miteinander reden.
Auch im eingefrorenen Konflikt in Syrien nehmen Gewalt und Instabilität zu. Verhandlungen auf dem einen Gleis zwischen der syrischen Regierung und dem arabischen Verbindungsausschuss, der aus Jordanien, Saudi-Arabien, Irak, Ägypten und der Arabischen Liga besteht, stecken fest. Und das andere Gleis, der von den UN geführte Friedensprozess, hat sehr begrenzte Ziele – darunter eine neue Verfassung, die von einem Komitee ausgearbeitet werden soll, das seit 18 Monaten nicht getagt hat. Ein UN-geführter Prozess, der Vertrauen zwischen Syrien und dem arabischen Verbindungsausschuss sowie Frankreich, Deutschland, Großbritannien und den USA aufbauen soll, muss erst noch beginnen und ist von den politischen und militärischen Entwicklungen weitgehend abgekoppelt.
Eingehegte Gewalt kann schnell wieder aufflackern
Kriege einzudämmen löst sie nicht, erfordert aber dauerndes Management: Man muss proaktiv daran arbeiten, Groll und Klagen anzugehen, Gewalt im Zaum zu halten, Verhandlungen voranzutreiben und einer Zunahme von Instabilität oder unerwarteten Ereignissen zu begegnen. Gewalt einzuhegen ist zu Anfang ein sinnvolles Ziel, aber sobald eine Deeskalation erreicht ist, lässt die Aufmerksamkeit allzu oft nach. So werden Warnzeichen für ein Wiederaufflackern der Gewalt leicht übersehen.
Das ist besonders da ein Problem, wo bewaffnete Gruppen oder Regime nach gescheiterten Friedensprozessen oder während eines politischen Übergangs die Kontrolle behalten. Werden sie nicht für Untaten zur Rechenschaft gezogen, dann ermutigt sie das, erneut zu Gewalt zu greifen. So ließen sich die rivalisierenden sudanesischen Generäle nicht abhalten, seit April 2023 erneut gegeneinander zu kämpfen – weder von den UN noch von ihren jeweiligen internationalen Unterstützern (hauptsächlich Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate) noch von Staaten, die den Übergangsprozess fördern wie Norwegen, die USA und Großbritannien.
Und die Lage im Gazastreifen und im Westjor–danland haben regionale Akteure, westliche Diplomaten sowie Fachleute seit langem als unhaltbar eingeschätzt. Doch die internationale Aufmerksamkeit richtete sich auf andere Fragen: Unter Führung der US-Regierung von Donald Trump wurden die regionalen Beziehungen zwischen Israel und arabischen Staaten wie Bahrain und den Emiraten verbessert; die Regierung von Joe Biden hat das beibehalten und sich energisch für ein israelisch-saudisches Abkommen eingesetzt. Dabei wurden die Ursachen des israelisch-palästinensischen Konflikts völlig außer Acht gelassen.
Humanitäre Hilfe ist kein Patentrezept
Allzu oft dient humanitäre Hilfe als Patentrezept für das Management ungelöster Konflikte. So belaufen sich die UN-Hilfsaufrufe für Syrien für 2023, zwölf Jahre nach Beginn des Krieges, auf 4,81 Milliarden US-Dollar für Programme innerhalb des Landes und 5,7 Milliarden für Flüchtlingshilfe. Ähnliche Summen werden für den Sudan und Myanmar benötigt. In beiden Ländern ist die Rolle des UN-Botschafters unbesetzt und ein Friedensprozess nicht erkennbar; die Gewalt hält an, während die Zivilbevölkerung von spärlichen Hilfslieferungen lebt – und auch das nur in Gebieten, die für Helfende zugänglich sind.
Mit der zunehmenden Zahl der Kriege steigen die Ausgaben für Nothilfe weiter. Die Geberländer können damit kaum Schritt halten. Die Mittel für humanitäre Hilfe sind von 2012 bis 2018 jährlich um durchschnittlich zehn Prozent gestiegen, dann aber kaum mehr. Aber die Hilfsaufrufe der UN sind weiter stark gestiegen, seit 2013 hat sich die Summe vervierfacht. Von den 406 Millionen Menschen, die 2022 humanitäre Hilfe benötigten, lebten 87 Prozent in einem Land im offenen Krieg oder Bürgerkrieg und 83 Prozent in einer Dauerkrise.
Humanitäre Hilfe kann unter diesen Umständen nicht die einzige Antwort sein. Will man Flüchtlingen die Rückkehr ermöglichen, dann muss sich vor allem die Dynamik vor Ort so ändern, dass Menschen ihr Eigentum zurückerhalten und sich ohne Diskriminierung wieder eingliedern können. Gerechtigkeit und Entwicklung nach einem Gewaltkonflikt müssen von verantwortlichen Regierungen geleitet werden, die willens sind, das Erbe der Übergriffe während des Krieges anzugehen, angemessen und ohne Diskriminierung zu regieren und ein produktives wirtschaftliches Umfeld zu schaffen, in dem Korruption und anrüchige Geschäfte bekämpft werden. Und Friedenskonsolidierung auf lokaler Ebene erfordert Raum für die Zivilgesellschaft, um Dialog zu führen, Unmut aufzugreifen und inklusive Entscheidungsfindung und Regierungsführung zu gewährleisten.
Entscheidend ist der Friedenswille der mächtigen Staaten
Die Welt steht an einem Wendepunkt. Noch ist es möglich, Unterstützung für einen neuen Ansatz zur Konfliktlösung zu gewinnen. Dazu braucht es kreative und mutige Führung seitens einer breiten Koalition aus Politik, Wirtschaft, den UN, Friedensinitiativen und lokalen Gemeinschaften sowie neuen Ehrgeiz, Frieden zu schaffen.
Zuerst und vor allem erfordert die Erneuerung der Friedensbemühungen für das 21. Jahrhundert den politischen Willen der mächtigen Staaten – vor allem der USA und der anderen ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats. Das hat UN-Generalsekretär António Guterres in seinem kürzlich veröffentlichten Strategiepapier „Neue Agenda für den Frieden“ betont. . Er möchte die Verantwortung für die Sicherung des Friedens und die Einhaltung internationaler Normen stärker in die Hände einzelner Länder statt in die des multilateralen Systems legen. Wenn Regierungen in Brüssel, London, Washington und anderswo, die erklären, an eine regelbasierte Weltordnung zu glauben, internationale Gesetze und Normen einhalten und sie erhalten wollen, dann gibt es vielleicht Hoffnung für die Zukunft. Sonst wird der Wettlauf Richtung niedrigste Standards weitergehen.
Eine präzisere Sprache in Fragen des Friedens kann Regierungen helfen, sich wieder mehr für das Hauptziel einzusetzen. Wenn schon Verhandlungen über einen Waffenstillstand als Friedensprozess bezeichnet werden, entsteht allzu oft der Eindruck, Frieden sei bereits bei einer vorübergehenden Feuerpause erreicht. Eine genauere Problemdefinition, die zwischen den Phasen des Konfliktmanagements, der Konfliktlösung und der Friedenskonsolidierung unterscheidet, und eine ehrliche Einschätzung der Chancen, zur nächsten Phase überzugehen, würden auch eine ehrliche Einschätzung bringen, was praktisch möglich und moralisch akzeptabel ist. So kann man realistisch abschätzen, was kurzfristig, mittelfristig und langfristig erreichbar ist. Voreilige Erfolgsmeldungen gefährden die Fortführung von Friedensprozessen.
Vermittler müssen kreativer und kooperativer werden
Am wichtigsten ist ein neuer Ansatz für Vermittlung. Die heutigen Prozesse und Praktiken der Friedenskonsolidierung wurden nach dem Ende des Kalten Krieges entwickelt und professionalisiert; sie beruhen auf weltpolitischer Zusammenarbeit, erfolgreichen Friedensgesprächen und politischen Übergangsprozessen – Voraussetzungen, die nicht mehr existieren. Die heutige Welt des geopolitischen Wettbewerbs erfordert etwas anderes.
Vermittler müssen kreativer und kooperativer werden. Sie sollten als Anwälte in eigener Sache in der Öffentlichkeit für den Frieden werben. Sie müssen sich diplomatische Unterstützung sichern und mit einer Vielzahl von Gruppen, auch aus der Zivilgesellschaft, zusammenarbeiten. Insbesondere müssen Mediatoren eng mit lokalen Friedensstiftern kooperieren, sie stärken, ihr Wissen aufgreifen und wichtige Spieler einbeziehen. Friedensprozesse dürfen nicht länger darauf zielen, die Machtdynamik des Status quo zu erhalten. Vermittler sollten auch eng mit regionalen Staatenblöcken arbeiten, sich in bilaterale Verhandlungen stärker einbringen und Konfliktparteien befähigen, einen nachhaltigen Frieden zu schaffen, sobald die Waffen schweigen.
Wer Frieden schaffen will, sollte auch nichttraditionelle Akteure einbinden: Regionalmächte, humanitäre Organisationen und Vertreter des Privatsektors. Dies sollte dem Privatsektor eine Rolle bei der Unterstützung des Friedens ermöglichen, neue Modelle der geopolitischen Zusammenarbeit formen und Hilfe in Friedensförderung leiten statt in Ersatz dafür. Das sind weitreichende Forderungen. Aber sie sind die Grundvoraussetzungen dafür, dauerhaften Frieden zu schaffen, die Ausbreitung von Kriegen zu stoppen und nach mehr zu streben als einer vorübergehenden Eindämmung von Gewalt.
Der Artikel ist zuerst englisch in Foreign Affairs erschienen.
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Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
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