Frieden lässt sich so nicht schaffen

Paul Lorgerie/Reuters
Ein litauischer Ausbilder der EU-Trainingsmission in Mali erklärt im März 2021 malischen Soldaten die Bedienung einer Haubitze. Der Versuch, von außen einen Staat zu schaffen, der für Sicherheit sorgt, ist auch hier gescheitert.
Fragile Staaten
Seit langem versuchen westliche Geber, in von Gewalt­konflikten geplagten Ländern Wirtschaftswachstum und einen stabilen Staat zu fördern. Das ist gescheitert – nicht zuletzt, weil diese Hilfe von falschen Annahmen ausgeht.

Es ist in Gewaltkonflikten besonders schwierig, mit Entwicklungszusammenarbeit etwas auszurichten. Ein Haupthindernis dafür liegt in der Denkweise der Geber – insbesondere in ihrer Annahme, Investitionen und öffentliche Dienste seien der Königsweg zu einem funktionierenden Staat.

In den frühen 2000er Jahren erklärte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): Gewaltkonflikte lassen sich am besten beenden, wenn internationales Engagement dafür sorgt, dass alle Menschen in stabilen Staaten leben. Dieses Rezept prägt bis heute das Vorgehen der großen Geberländer, die in der OECD auch Standards und Konzepte für Entwicklungshilfe vereinbaren. Aber es ist sehr fragwürdig.

Die Vorstellung, was einen Staat ausmacht, geht dabei auf den deutschen Soziologen Max Weber zurück – er hat sie in Europa kurz nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt. Danach hat ein Staat drei Merkmale: Er muss in der Lage sein, für seine Bürger Dienstleistungen zu erbringen und die dafür erforderlichen Mittel von den Bürgern einzutreiben, also Steuern zu erheben. Er muss das Machtmonopol innehaben. Und die Bürger müssen ihn als legitim ansehen.

Das Rezept für einen stabilen Staat hat nicht funktioniert

Viele Arbeitspläne und Theorien für die internationale Entwicklungszusammenarbeit, besonders im Kontext von Gewalt und Konflikten, greifen auf Webers Staatstheorie zurück, weil sie den modernen Staat als klares Ziel vorgibt: Ein schwacher Staat kann Gewalt nicht verhindern. Er erbringt keine öffentlichen Dienstleistungen, so dass die Bürger unzufrieden werden und sich leicht gewaltsam gegen die Regierenden auflehnen. Er kann auch nicht die Voraussetzungen für Entwicklung und Wirtschaftswachstum schaffen. Aber, so das Rezept der OECD, Staatsaufbau nach Webers Konzept ist planbar und lässt sich in einzelne Schritte und den Aufbau der nötigen technischen Fähigkeiten zerlegen – eine einfache, lineare Verbindung von Ursache und Wirkung. Danach bringt es Frieden, wenn man Dienstleistungen wie etwa Gesundheitsversorgung bereitstellt und Staaten dabei unterstützt, das Gewaltmonopol zu behaupten.

Doch die Versuche, das umzusetzen, sind völlig schiefgegangen. Sie haben Länder wie Afghanistan, Südsudan und Sri Lanka nicht in sichere, friedliche Staaten verwandelt, die öffentliche Dienste zur Verfügung stellen. Afghanistan ist zur Herrschaft der Taliban zurückgekehrt, der Südsudan zum Bürgerkriegsland geworden, Sri Lanka drängt den tamilischen Teil seiner Bürger auf Dauer ins soziale und politische Abseits. Auch in vielen anderen Ländern hat das Rezept für Staatsaufbau und Frieden nicht funktioniert.

Das sollte nicht überraschen. Von 2011 bis 2021 hat das Secure Livelihoods Research Consortium (SLRC) – darunter auch ich – in London mit Forschungspartnern in der ganzen Welt, darunter in acht von Konflikten betroffenen Ländern, die Wirkungen des Ansatzes untersucht. Wir konnten Entwicklungspraktikern und Entscheidungsträgern empirisch nachweisen, dass ihre Theorie des Wandels nicht funktioniert. Verlässliche Zusammenhänge zwischen verbesserten Dienstleistungen und erhöhter Legitimität der Regierung oder zwischen Stabilisierungsprogrammen und anhaltendem Frieden konnten wir nicht feststellen.

Wachstum ermöglicht nicht per se ein menschenwürdiges Leben

Das Rezept bringt nicht nur, anders als erwartet, keine friedlichen, funktionierenden Staaten hervor. Es bestärkt sogar eine Ursache von deren Scheitern: das transaktionale Denkmodell, das Politik als einfachen Tauschhandel zwischen Staat und Bürgern auffasst, auf Wirtschaftswachstum ausgerichtet ist und unterstellt, dass Entwicklung in erster Linie von wirtschaftlichen Anreizen angetrieben wird.

Autorin

Mareike Schomerus

ist Vizepräsidentin beim Busara Center for Behavorial Economics (Busara-Zentrum für Verhaltensökonomie, https://busaracenter.org/). Ihr jüngstes Buch „Lives Amid Violence: Transforming Development in the Wake of Conflict“ ist bei Bloomsbury frei erhältlich (https://bit.ly/3isxMAk).
Die Vorstellung, dass Wachstum notwendig ist, um Staaten aufzubauen und allen Bürgern ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, ist weit verbreitet. Auch das internationale Entwicklungsengagement folgt nicht in erster Linie dem Ziel der Umverteilung, sondern fördert Wachstum durch Unternehmertum, Zugang zu Krediten und Zugang zu Beschäftigung. Das soll der Bevölkerung Mittel verschaffen, sich selbst zu versorgen, in die Zukunft zu investieren und Steuern zu zahlen.

Unsere Forschung in Afghanistan, Pakistan, Nepal, Sierra Leone, Sri Lanka, Südsudan und Uganda stellt dieses Modell jedoch zumindest für Konfliktländer in Zweifel. So scheint es naheliegend, den Zugang zu Krediten dort zu verbessern, wo Leihen und Verleihen mit sozialen Verbindungen verknüpft und der Zugang nicht gleichmäßig ist. Vor allem in Afghanistan und Pakistan haben wir gesehen, dass viele Haushalte hoch verschuldet waren. In Afghanistan sind sie manchmal untereinander verschuldet und scheinen kein Interesse daran zu haben, sich gegenseitig die Schulden zu erlassen. Entwicklungsprogramme versuchen nun, Zugang zu kommerziellen Krediten zu ermöglichen, um die Schulden der Haushalte und die mit diesen verbundenen Pflichten zu verringern. Mikrokredite und Kredite für Kleinunternehmen sind eine gängige Politik der Geber, auch in Sri Lanka und Uganda. Aber unsere Daten belegen, dass Zugang zu Kredit dort das Wirtschaftsleben weder stabilisiert noch verbessert.

Frauen in Bumwero in Uganda zahlen Mikrokredite von einer lokalen Organisation ab. Geberländer fördern gern solche Programme, zu stabileren Staaten tragen sie allerdings selten bei.

Die Annahme, dass Zugang zu Krediten kapitalistischen Unternehmergeist freisetzt und als Folge Arbeitsplätze und Steuerzahler hervorbringt, hat sich in der Realität einfach nicht bewahrheitet. In Afghanistan haben formale Kredite stattdessen einen entscheidenden Faktor des sozialen Zusammenhalts entfernt. Denn die lokale Wirtschaft ist mehr als ökonomische Transaktionen: ein Austausch für soziale Zwecke. Wenn eine informelle Schuld nicht rechtzeitig zurückgezahlt wird, entstehen soziale Verpflichtungen, die auf andere Weise als mit Geld erfüllt werden können – etwa durch Inanspruchnahme sozialer Verbindungen, durch Arbeitsleistung oder andere Unterstützung. Werden dagegen formelle Kredite nicht bedient, kann das schnell zu einer Überlebenskrise werden. 

Unternehmenskredite, aber kein Unternehmen

In Pakistan zum Beispiel nahmen Gläubiger formelle Kredite auf, um ihre informellen Schulden zu bedienen. Sie setzten also das Geld nicht wie vorgesehen produktiv ein, und es entstand eine Schuldenspirale. In Sri Lanka und Uganda nahmen Menschen nur Kredite für unternehmerische Vorhaben auf, weil sie anders nicht an Kredit kamen; sie wollten gar kein eigenes Unternehmen führen. Die Rückzahlung von Unternehmenskrediten ohne Unternehmen führte zu immer tieferer Verschuldung.

Öffentliche Dienstleistungen, die ein Kernvorhaben vieler Entwicklungsprogramme sind, sind nützlich. Es ist wertvoll, dafür zu sorgen, dass Kinder zur Schule gehen und Kranke ein Krankenhaus aufsuchen können. Doch das Paradigma des Staatsaufbaus betrachtet öffentliche Dienste nicht nur als Mittel zur Verbesserung des Lebens, sondern auch als Währung, mit der sich ein Staat bei seinen Bürgern Legitimität erkauft. Auch diesen Effekt konnten wir nicht empirisch bestätigen. Zum Beispiel brachten die Menschen in nepalesischen Konfliktgebieten trotz verbesserten Zugangs zu Gesundheitsdiensten dem Staat weiter großes Misstrauen entgegen. Warum? Weil für unterversorgte und ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen nicht der bloße Zugang zu Gesundheitsdiensten am wichtigsten ist, sondern die Erfahrung, die sie mit diesen Gesundheitsdiensten machen. Sie berichteten häufig, dass sie respektlos behandelt wurden, und fühlten sich als Gruppe diskriminiert, was ihr Misstrauen gegenüber dem Staat noch verstärkte.

Diese Ergebnisse stellen verbreitete Denkweisen in der internationalen Entwicklung grundlegend infrage. Das gilt auch für Entwicklungstheorien, die davon ausgehen, dass der Weg Afghanistans ähnlich aussehen müsste wie der, auf dem Teile Westeuropas über Jahrhunderte zu den heutigen industrialisierten, reichen und demokratischen Staaten geworden sind. 

Gewaltkonflikte entfalten eine Eigendynamik

Wie kann man angemessener über Entwicklung in Konfliktgebieten nachdenken? Man muss sich darüber im Klaren sein, dass Gewaltkonflikte eine Eigendynamik entfachen. Marginalisierung und Gewalt setzen sich oft immer wieder fort. Dies lässt sich nicht durch kurzfristigen Kapazitätsaufbau ändern, zum Beispiel von Unternehmen mittels Kleinkrediten. Ein Wechsel der Perspektive ist erforderlich. Man muss in der Entwicklungsarbeit anerkennen, dass der oft nur zwei Jahre dauernde Projektzyklus nicht nur ineffektiv, sondern sogar schädlich ist und die Konfliktdynamik befördert, weil er verhindert, dass wirkliche Beziehungen aufgebaut werden können. Nötig ist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Einzelfall und seinem Kontext. Was würde zum Beispiel eine wirtschaftliche Unterstützung für die Afghanen erfordern, die ernst nimmt, dass eine von sozialen Beziehungen geprägte Wirtschaft nicht minderwertig ist, sondern ein soziales Sicherheitsnetz bietet, das der afghanische Staat nicht hat?

Weiter gilt es einzusehen, dass Gewalt Menschen und Gesellschaften grundlegend verändert. Wir wissen heute, dass die Erfahrung von Gewalt und Konflikten individuelle Entscheidungen und das kollektive Verhalten beeinflusst. In Uganda haben wir gelernt, dass die Erinnerung an den Konflikt beeinflusst, was Menschen als fair empfinden oder inwieweit sie in die Zukunft investieren wollen. Dies muss bei Entwicklungsprogrammen in Konfliktsituationen in Betracht gezogen werden. 

Vielleicht den wichtigsten Perspektivwechsel müssen Entscheidungsträger der Entwicklungszusammenarbeit vornehmen: Sie dürfen öffentliche Dienste nicht länger als Währung zum Kauf von Legitimität sehen. Stattdessen ist ein anderer Begriff von Legitimität nötig: Sie entsteht im Dialog zwischen dem Staat und seinen Bürgern und unter den Bürgern – was nur funktioniert, wenn Behörden ein Interesse daran zeigen, den Bürgern zuzuhören.

Aufforderung zum Umdenken

Es gibt Beispiele für Arten des Entwicklungsengagements, die zu anderen Ergebnissen führen. Länderplattformen  – von Regierungen geleitete Gremien, in denen internationale Geber mit Partnerländern zusammenarbeiten – erlauben zum Beispiel einer Regierung, ihre Agenda selbst in die Hand zu nehmen, statt sich weitgehend von Interessen der Geber leiten zu lassen. Liberia und Sierra Leona konnten durch solche Plattformen mehr Eigenverantwortung für ihre Entwicklung übernehmen. Systemdenken, wie es in einigen Entwicklungsagenturen verfolgt wird, hat Programme hervorgebracht, bei denen einzelne kurzfristige Projekte nicht losgelöst vom Kontext betrachtet werden; sondern sie berücksichtigen die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kräfte, die jede Entwicklungsmaßnahme beeinflussen.

Am Ende ergibt die Forschung nur eine vage Aufforderung zum Umdenken – ist das nicht enttäuschend? Nein. Denkmuster leiten all unsere Handlungen; sie ernstlich zu hinterfragen, ist ein großer Schritt. In den Mittelpunkt zu stellen, dass Entwicklungszusammenarbeit komplex und politisch ist und nicht überall eine vom Transaktionsdenken geprägte Theorie der Veränderung verfolgen kann, wäre ein großer Schritt nach vorn.

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Der östereichische Friedensforscher Franz Jedlicka stellt die simple Frage: Kann ein Land friedlich werden, so lange dort bereits die Gewalt an Kindern akzeptiert wird? Er hat zuletzt auch auf die weit verbreitete Körperstrafe in der Kindererziehung in fragile States hingewiesen (auf Researchgate). Damit folgt er den Forschungsergebnissen von Valerie Hudson et.al., die bewiesen hat, dass das, was in den Familien passiert (bei Hudson: in Bezug auf die Stellung der Frau) sich in der Politik widerspiegelt. Notwendig wäre daher eine konditionale Entwicklungspolitik, die ein Verbot der häuslichen Gewalt gegen Frauen und Kinder zur Bedingung macht. Denn der Kinderschutz SDG 16.2. ist Teil des Friedens-SDGs 16.

MfG Georg Wolf

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So pauschal wie Frau Schomerus das schreibt, kann man nicht sagen, dass die internationale Kooperation und EZ bei der Stabilisierung von fragilen Staaten gescheitert ist. Den Beispielen von Frau Schomerus, kann man erfolgreich Beispiele entgegensetzen. So ist es gelungen Cote d´Ivoire nach einem Bürgerkrieg zu stabilisieren. Und wir haben jetzt dort eine sehr erfolgreiche wirtschaftliche und soziale Entwicklung. In Sierra Leone hat das Eingreifen von 200-300 britischen Fallschirmjägern dazu geführt, eine Terrormiliz auszuschalten. Seitdem gibt es auch dort Fortschritte, wenn auch verhalten.
In Kenia hat das entschlossene Eingreifen der USA und auch Deutschlands nach einer sehr umstrittenen Wahl, die in einen Bürgerkrieg zu eskalieren drohte, dazu geführt, dass eine große Koalition gebildet wurde. Seitdem ist Kenia institutionell einigermaßen stabilisiert und Wahlen finden seitdem fast ohne Probleme statt.
In der Frage der Intervention und EZ für fragile Staaten gibt es keine eindeutige "one fits for all" Antwort. Jeder Fall ist verschieden. Allerdings ist eine gesunde Skepsis mit Blick auf Machbarkeit von Stabilisierung sicher hilfreich. Das zwingt dazu in jedem neuen Fall sehr genau hinzuschauen und natürlich die negativen Erfahrungen in das Abwägen des Für und Wider einzubeziehen.

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