Als die Bundesregierung nach dem Mord an dem saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im Herbst 2018 Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien verbot, wies der französische Präsident Emmanuel Macron den Vorstoß harsch zurück. Für Frankreich, aber auch andere EU-Staaten wie etwa Spanien komme so etwas nicht infrage. Es ging um wichtige wirtschaftliche Beziehungen und viel Geld, denn die beiden Staaten entwickeln zusammen mit Deutschland das neue Kampfflugzeug FCAS. Ermordete Oppositionelle, unterdrückte Frauen, ausgebeutete Gastarbeiter und verfolgte Homosexuelle änderten für Macron nichts daran, dass man Saudi-Arabien als Partner brauche, wenn es um Energiepolitik und um die Sicherheit am Golf ging. Dahinter steckte die Position, strategische Interessen über moralische Werte zu stellen.
Jetzt sprechen sich Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock für die Lieferung von Eurofighter-Kampfjets an Saudi-Arabien aus. Das zeigt, dass sich auch die Bundesregierung diese Einstellung zu eigen macht. Ob das den Frieden in der Golfregion oder den Schutz Israels fördert, ist zweifelhaft. Auf alle Fälle aber misst die Bundesregierung mit zweierlei Maß. Denn mit Blick auf die Kriege in der Ukraine oder in Gaza fordert sie von etlichen Staaten des globalen Südens sehr wohl, dass sie die Moral über ihre eigenen strategischen Interessen stellen . Als beispielsweise Indien sich weigerte, den russischen Einmarsch in die Ukraine per UN-Resolution zu verurteilen, war die Enttäuschung bei vielen westlichen Regierungen groß. Dass Indien Waffenlieferungen aus Russland braucht, die für das Land wegen seiner schwierigen Nachbarschaft wichtig sind, ging dabei völlig unter.
Auch die deutsche Außenpolitik scheint heute enger als noch um die Jahrtausendwende von Geopolitik, Energie- und Rohstoffsicherheit bestimmt. Beobachter im globalen Süden kritisieren zu Recht, dass es dem Westen in erster Linie darauf ankomme, Russland und China zu schwächen, ohne die Auswirkungen auf die Länder des Südens zu berücksichtigen. Dabei werden Chinas Investitionen, etwa in Pakistan, Bangladesch oder etlichen afrikanischen Staaten, dort durchaus geschätzt. Nicht zuletzt hat die COVID-19-Pandemie offensichtlich gemacht, wo westliche Industriestaaten ihre Prioritäten setzen: Während sie sich anfangs riesige Mengen an Impfstoffen beschafften, die oft über ihren Bedarf hinausgingen, hatten die Länder des globalen Südens, insbesondere in Afrika, kaum Zugang dazu.
Neue Möglichkeiten für günstige Zweckbündnisse
Die Länder des globalen Südens unterscheiden sich zwar wirtschaftlich, kulturell und politisch, und einige von ihnen stehen miteinander in ernsthaftem Konflikt – etwa Indien und Pakistan oder Iran und Saudi-Arabien. Aber sie sind sich einig darin, dass sie sich Vorschriften aus Europa oder den USA immer weniger gefallen lassen wollen. Zugleich werden sie von rivalisierenden Großmächten, besonders den westlichen Ländern, China und Russland, als potenzielle Verbündete umworben. Das hat sich im August 2023 beim BRICS-Gipfel und beim G 20-Gipfel in Neu-Delhi im September 2023 gezeigt. Immerhin vereinigen die BRICS-Plus-Staaten inzwischen über 35 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts und damit mehr als die USA und die europäische Union zusammen. Auch kleinere Staaten sehen neue Möglichkeiten, sich je nach Thema einem für sie günstigen (Zweck-)Bündnis anzuschließen und dabei das Bestmögliche für sich herauszuholen – ihre Optionen haben sich verbessert.
So stoßen etwa Wirtschaftssanktionen und politische Bedingungen für Entwicklungshilfe im Süden auf wachsenden Widerspruch. Ein Grund, diese Staaten deshalb als Gegenspieler zu sehen oder die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit ihnen zu kürzen, wie es etwa der FDP-Vizevorsitzende Wolfgang Kubicki und der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, angesichts des Haushaltsstreits fordern, ist das aber nicht. Denn gerade die Entwicklungszusammenarbeit hat das Ziel, dass der Gewinn des einen eben nicht der Verlust des anderen, sondern der Gewinn aller ist. Würde sich die Bundesregierung zum Beispiel aus der Finanzierung weltweiter Klimaschutzprojekte zurückziehen, um das Geld in die heimische Landwirtschaft zu investieren, dann wäre das nicht nur schlecht für den Klimaschutz und die weltweite Armutsbekämpfung, sondern auch für alle, die hierzulande zunehmend mit klimabedingten Schäden klarkommen müssen.
Angebracht ist Interessenpolitik also durchaus. Aber keineswegs losgelöst, sondern bestimmt von universellen Werten, wie sie die vor 75 Jahren von der überwältigenden Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten – und eben nicht nur vom „Westen“ – verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet. Internationale Debatten über Interessen und Werte, Weltwirtschaft, nachhaltige Entwicklung und auch Friedenspolitik funktionieren aber besser und glaubhafter, wenn die Stimmenverteilung in wichtigen UN-Gremien wie dem Sicherheitsrat, aber auch Weltbank oder IWF nicht mehr die Welt von 1949 widerspiegelt, sondern die von heute.
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