„Täglich werden Zivilisten getötet“

REUTERS/Feisal Omar
Polizisten sichern im August 2022 in der somalischen Hauptstadt Mogadischu einen Tatort. Kurz zuvor hat die Terrorgruppe Al-Shabaab einen Bombenanschlag auf ein Hotel in der Nähe verübt.
Somalia
Der somalische Journalist Abdalle Ahmed Mumin wurde in den vergangenen zwölf Monaten zweimal verhaftet. Im Interview berichtet er von seiner Zeit im Gefängnis und erklärt, wie gefährlich journalistische Arbeit in seiner Heimat ist. Die Europäische Union sollte ihre Zusammenarbeit mit Somalia überdenken, fordert er.

Abdalle Ahmed Mumin,39, ist freier Journalist und Mitbegründer sowie Generalsekretär des Somalischen Journalistenverbands. Er schreibt vor allem über Menschenrechte und den Krieg in Somalia. Im Oktober 2022 und im Februar 2023 wurde er jeweils für mehrere Wochen ins Gefängnis gesteckt.

Herr Mumin, wo sind Sie und wie geht es Ihnen?
Mir geht es gut. Ich bin mit einem Stipendium der Open Society Foundation am Zentrum für Angewandte Menschenrechte der York University in England. Das ermöglicht mir, mich von einem sicheren Ort aus weiter für Pressefreiheit und Menschenrechte in Somalia zu engagieren. Außerdem forsche ich an der Uni zu Fragen der Menschenrechte.

Vor einem Jahr wurden Sie in Somalia verhaftet und für 44 Tage ins Gefängnis gesteckt. Warum?
Im Oktober 2022 haben sich Vertreter lokaler Journalistenverbände und des Somalischen Journalistenverbands in Mogadischu getroffen, um eine Erklärung gegen Pläne der Regierung zu formulieren, die Pressefreiheit in Somalia zu beschneiden. Unserer Ansicht nach verstießen diese Pläne gegen die somalische Verfassung und gegen international verbriefte Menschenrechte, denen auch Somalia verpflichtet ist. Aber anstatt unsere Bedenken anzuhören, schickte die Regierung den Geheimdienst los und verhaftete mich am nächsten Tag am Flughafen von Mogadischu. Ich war gerade auf dem Weg zu meiner Frau und meinen Kindern, die aus Sicherheitsgründen in Nairobi leben. Sie nahmen mich mit und steckten mich für 44 Tage in eine unterirdische Zelle.

Wie wurden Sie dort behandelt?
Ich durfte niemanden treffen oder sprechen, weder meine Familie noch einen Anwalt oder Freunde. Ich bekam weder zu essen noch zu trinken. Mir ging es immer schlechter, es gab keine frische Luft, irgendwann konnte ich nicht mehr richtig atmen. Ich wurde wiederholt fast bewusstlos, und irgendwann dachte ich, ich würde sterben. Dann hieß es, ich würde auf Bewährung entlassen. Mir wurde verboten, journalistisch zu arbeiten oder mich weiter für den Journalistenverband zu engagieren. Außerdem wurde ein Gerichtsverfahren gegen mich eröffnet wegen Kritik am Informationsministerium. Im November wurde ich ins Gericht zitiert, und sie boten mir an, die Anschuldigungen unter zwei Bedingungen fallenzulassen: Zum einen sollte ich mich schriftlich bei der Regierung entschuldigen, vor allem beim Informationsminister. Zum anderen sollte ich aufhören, die Regierung zu kritisieren, und mich stattdessen gut mit ihnen stellen. Unter diesen Bedingungen würde ich frei sein. 

Haben Sie das akzeptiert?
Nein, ich habe es abgelehnt. Sie haben gesagt, okay, dann setzen wir den Gerichtsprozess fort. Ich habe gesagt, ja, macht das. Und so ging das Verfahren weiter, um mich zu schikanieren.

Im Februar dieses Jahres wurden Sie erneut verhaftet. Warum dieses Mal?
Am 13. Februar wurde ich vom Gericht zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Aber der Direktor des Gefängnisses von Mogadischu weigerte sich, mich in Haft zu nehmen. Er sagte, es gebe kein Verbrechen und ich hätte während meiner ersten Haft schon genug gelitten. Ich kam also frei und ging nach Hause. Ich fing an zu arbeiten, gab sogar eine Pressekonferenz, auf der ich über meinen Fall informiert habe. Zehn Tage später nahm ich in einem Hotel in Mogadischu an einem Treffen von Abgeordneten des somalischen Parlaments mit Vertretern der Zivilgesellschaft teil. Es ging um Gesetze im Kampf gegen den Terrorismus. Auf einmal tauchten bewaffnete Mitarbeiter des Geheimdienstes auf und umstellten das Hotel. Sie verlangten von den Veranstaltern des Treffens, mich auszuliefern. Sie drohten, das Hotel zu stürmen, es gab große Aufregung. Ich stellte mich ihnen freiwillig, sie verhafteten mich und brachten mich in ein privates Haus, nicht ins Gefängnis wie beim ersten Mal. Dort haben mich Sicherheitskräfte mit ihren Gewehren am ganzen Körper geschlagen. Sie haben mich getreten und mir nichts zu trinken gegeben. Dabei haben sie mich die ganze Zeit gefragt, warum ich die Regierung kritisiere, ob ich damit aufhöre, ob ich nicht besser mit ihnen zusammenarbeite wolle. Am nächsten Tag wurde ich ins Gefängnis gebracht und für 33 Tage in eine völlig überfüllte Zelle gesteckt.

Wie steht es allgemein um die Menschenrechte in Somalia?
Sehr schlecht. Täglich werden Zivilisten getötet. Viele Frauen werden Opfer von sexueller Gewalt, sogar in Camps für intern Vertriebene, also für Menschen, die aufgrund von Konflikten oder der humanitären Krise im Land ihre Heimat verlassen mussten. 

Wer sind die Täter?
Sowohl Regierungssoldaten als auch die mit ihnen verbündeten Milizen. Die Regierung kämpft gegen die Terrorgruppe Al-Shabaab. Das tut sie gemeinsam mit verbündeten Clanmilizen. Und die handeln unter völliger Straffreiheit. Ich habe Fälle von jungen Frauen in ländlichen Regionen dokumentiert, die von Milizkräften vergewaltigt wurden, in einem Fall über 24 Stunden. Die zuständigen lokalen Behörden haben mir gesagt, sie könnten nichts tun, sie seien machtlos, die Milizen seien bewaffnet. Ich habe das UN-Büro in Mogadischu gebeten, sich wenigstens darum zu kümmern, dass die betroffenen Frauen medizinisch versorgt werden. 

Ist es gefährlich, als Journalist zu solchen Fällen zu recherchieren?
Ja, und deshalb dringen sie kaum an die Öffentlichkeit. Die Regierung brandmarkt Journalisten als Terroristen, wenn sie zu den Taten der Sicherheitskräfte oder der Milizen recherchieren. Im Oktober wurde einer meiner Kollegen bei einem Bombenattentat getötet, als er das Studio des somalischen Kabelfernsehens verließ. Er hatte gerade die Abendnachrichten gesendet und wollte sich in einem Coffee Shop mit jemandem zu einem Interview treffen. Dort wurde er getötet. 

Wurden die Täter gefasst?
Wir haben die Polizei aufgefordert, die Täter zu ermitteln. Doch die hat die Überwachungskameras vor Ort abmontiert und hält Beweise zurück. Ich vermute, mein Kollege wurde gezielt getötet. Es ist auffällig, dass in der Nähe des Präsidentenpalastes – dem am stärksten gesicherten Viertel von Mogadischu – ein Journalist umgebracht wird und die Regierung nichts tut, um das aufzuklären. Ein anderer Kollege von mir wurde verhaftet, nachdem er im August über Korruption bei der Polizei berichtet hatte. Es ging um Missstände im Rahmen der EU-Trainingsmission für die somalische Polizei. Er wurde gefoltert und war 56 Tage im Gefängnis.

Die Europäische Union sieht im somalischen Präsidenten Hassan Sheikh Mohamud einen verlässlichen Partner und will die Zusammenarbeit ausbauen. Was halten Sie davon?
Das ist keine gute Idee. Die EU unterstützt einen Präsidenten, der das Land ausbeutet, der nichts dagegen tut, dass sein Militär somalische Frauen und Männer tötet und vergewaltigt, und der es erlaubt, dass seine Familie sich die Ressourcen des Landes aneignet. Der Präsident hat zwei Frauen, die zu den reichsten Personen im ganzen Land zählen. Er hat seinen Söhnen und Töchtern und deren Ehepartnern Jobs in der Regierung verschafft. Zur gleichen Zeit leiden mehr als sechs Millionen Menschen in Somalia Hunger. Ich selbst bin in einem Camp für intern Vertriebene aufgewachsen und weiß, was es bedeutet, Hunger zu haben und um die nächste Mahlzeit zu kämpfen. Indem die EU diese Regierung unterstützt, trägt sie dazu bei, dass sich die Menschenrechtslage in Somalia stetig verschlechtert. So etwas sollte nicht mit Steuergeld der EU-Bürger finanziert werden.

Wäre es besser, die EU würde somalische nichtstaatliche Hilfsorganisationen fördern?
Ja. Es gibt eine Menge zivilgesellschaftlicher Organisationen in Somalia, die zu wenig Geld haben und ums Überleben kämpfen. Viele wurden mundtot gemacht. Auf diese Organisationen sollte die EU sich konzentrieren. Das würde ihr von der Bevölkerung hoch angerechnet. Das größte Problem in der Zusammenarbeit mit Somalia ist, dass die EU nicht auf die Einhaltung der Menschenrechte und auf Rechenschaftspflicht besteht. Warum fordert sie von der somalischen Regierung nicht die gleichen Standards ein, die auch in Demokratien gelten?

Wie gefährlich ist die islamistische Terrorgruppe Al-Shabaab heute noch?
Die normalen Leute in Somalia haben wirklich genug von diesem Konflikt. Die Regierung hat keine Strategie gegen Al-Shabaab, weil sie nichts gegen die Ursachen tut. Hinzu kommt, dass die Grenzen zwischen der Regierung und Al-Shabaab längst fließend sind. Heute kann man staatliche Sicherheitskräfte oder Leute vom Geheimdienst, die mich im Februar verhaftet haben, von Al-Shabaab-Kämpfern manchmal nicht mehr unterscheiden. Und deshalb trauen viele in Somalia keiner Seite mehr. Der Polizeichef von Mogadischu war früher bei Al-Shabaab. Er hat viele Leute umgebracht, und dann hat er diesen Posten bekommen. Wie kann ein einfacher somalischer Bürger das akzeptieren?

Aber der Mann hat der Al-Shabaab doch wahrscheinlich abgeschworen, oder?
Er kam vor neun Jahren von Al-Shabaab nach Mogadischu und musste für keine seiner Taten Verantwortung übernehmen. Wie kann das sein? Wie sieht das für seine Opfer aus? 2014 wurden in Mogadischu Hunderte Menschen getötet und einige Täter haben heute Regierungsposten. Was würde mein Bruder denken, der in einer Al-Shabaab-Attacke getötet wurde? 

Was sind die Ursachen des Konflikts? Was muss getan werden?
Die Ursachen liegen in der miserablen Situation großer Teile der somalischen Bevölkerung. Wir brauchen Bildung, wie brauchen Jobs. Wenn die EU etwas tun will, dann sollte sie sich darauf konzentrieren. Und sie liegen in der prekären Sicherheitslage vor allem in ländlichen Regionen. Als Al-Shabaab vor gut 15 Jahren auftauchte, dachten viele, sie könnten Sicherheit bringen, und schlossen sich ihnen an. Wie kriegen wir sie da wieder weg? Und wir brauchen Versöhnung: Es wurden so viele Menschen umgebracht, in den Dörfern herrschen Groll und Misstrauen. Die Gemeinden müssen wieder zusammenfinden. 

Der Chef der Mission der Afrikanischen Union in Somalia hat unlängst dafür plädiert, der somalischen Regierung mehr Waffen für ihren Kampf gegen Al-Shabaab zu liefern und das UN-Waffenembargo gegen Somalia aufzuheben. Was sagen Sie dazu?
Das ist Irrsinn. Wir haben wirklich genug Waffen, um uns gegenseitig umzubringen. Somalia braucht die Achtung der Menschenrechte und Rechenschaftspflicht, keine Waffen. Es gibt unzählige Berichte, dass aus dem Iran, aus dem Jemen, aus einer Vielzahl von Ländern Waffen nach Somalia gelangen. Du kannst auf offenen Märkten in Mogadischu Waffen kaufen, und ein Teil davon stammt aus Beständen der somalischen Armee. Wenn das UN-Embargo aufgehoben wird, wird sich das Angebot auf den Märkten entsprechend erhöhen, und noch mehr Zivilisten werden getötet. 

Was sind Ihre Pläne? Gehen Sie wieder zurück nach Somalia?
Es geht nicht um mich, es geht um die Menschen in Somalia. Ich will eine neue Organisation gründen, die sich um die Menschenrechte besonders verletzlicher Bevölkerungsgruppen wie Frauen und Kinder kümmert. Es geht darum, auf diese Gruppen aufmerksam zu machen und sie zu unterstützen, medizinisch zum Beispiel. Ich mache das zunächst hier von England aus. Wann ich nach Somalia zurückkehre, kann ich nicht sagen. Derzeit ist es dort zu unsicher für mich.

Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.

 

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erschienen in Ausgabe 6 / 2023: Von Jung zu Alt
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