Regierung, Milizen und die mit al-Qaida verbundene islamistische Bewegung al-Shabaab bekämpfen einander am Horn von Afrika seit Jahren. Alle Konfliktparteien vertreiben, verletzen und töten dabei auch Zivilisten. Vor allem al-Shabaab-Kämpfer sind für Terroranschläge, Morde an Zivilisten und Fälle von Verschwindenlassen verantwortlich. Einen nationalen Mechanismus zum Schutz der Menschenrechte, auf den Opfer sich berufen könnten, gibt es nicht.
Sich in solch einer Umgebung für die Einhaltung der Menschenrechte einzusetzen, ist sehr riskant. Abdirahman Hassan Omar geht dieses Risiko ein. Der 54-jährige Menschenrechtsanwalt aus Mogadischu unterstützt in Somalia ethnische Minderheiten wie die Bantu und die Bajuni ebenso wie vertriebene Familien im Kampf um ihre Rechte. Seine Kollegen und er erhalten deshalb immer wieder Drohungen.Omar betont, dass die Idee der Rechtsstaatlichkeit in Somalia kaum verankert sei. „Als Anwalt nutze ich deshalb meine Fähigkeiten, um denen zu helfen, die festgenommen und gefoltert werden. Oder denen, deren Landrechte verweigert und die zwangsumgesiedelt werden.“ Darüber hinaus unterstützt der Anwalt Menschen, denen der Zugang zu humanitärer Hilfe verweigert oder nur unter bestimmten Bedingungen gewährt wird. „Frauen und Mädchen werden häufig Opfer sexueller Gewalt.“
Weil er der Regierung Menschenrechtsverletzungen, Korruption und Machtmissbrauch bei der Gewährung staatlicher Dienstleistungen vorwirft, wird Omar teilweise auf der Straße angepöbelt und online attackiert. Im vergangenen Dezember wurde auf ihn geschossen; zwei Schüsse verfehlten nur knapp seinen Kopf, als er sein Haus verließ. Ein somalischer Polizist hatte auf ihn gezielt. „Er war im Dienst, und als er mich sah, feuerte er direkt auf mich.“ Omar vermutet, dass der Angriff damit zusammenhängt, dass er als Anwalt Klienten gegen die Willkür von Polizei und Militär verteidigt und damit deren Zorn erregt hat. „Obwohl der örtliche Polizeichef den Vorfall bezeugen konnte, läuft der Polizist, der auf mich geschossen hat, noch immer frei herum. Er wurde nicht festgenommen.“ Seine Familie hat Omar mehrfach geraten, das Land zu verlassen. „Aber wenn ich das täte, wer würde dann die Menschenrechte verteidigen?“
Letztes Jahr im Oktober erlebten Omar und seine Kollegen, wie in der Stadt Lasanod in Nordsomalia über 7200 Menschen, zumeist Frauen und Kinder ethnischer Minderheiten, von Regierungsbeamten aus ihren Häusern vertrieben wurden. Man warf ihnen vor, den örtlichen Einwohnern Jobs wegzunehmen und Unsicherheit in die Region zu bringen. Und das ist nicht alles. In der Küstenstadt Bosaso in der nordöstlichen Region Puntland bekriegen sich zwei Kampfverbände gegenseitig, obwohl sie beide zu den Regierungskräften gehören. In der Folge mussten Tausende Familien fliehen.
Bantu und Bajuni verlieren oft Land und Besitz
Angehörige ethnischer Minderheiten besitzen nach der somalischen Verfassung nicht die volle Staatsbürgerschaft. Sie sind in der Regierung kaum vertreten und haben so gut wie nie höhere Posten inne, weil sie gemeinhin als „minderwertig“ wahrgenommen werden. Folglich ist ihr sozialer, wirtschaftlicher und politischer Status sehr niedrig. Vor allem Bantu und Bajuni verlieren oft Land und Besitz, weil sie festgenommen werden und ihr Eigentum konfisziert wird. „Dieses Unrecht geschieht immer wieder, und die Menschenrechte werden dabei mit Füßen getreten“, sagt Omar. Darüber hinaus werde es Anwälten wie ihm verboten, sich für den Schutz der so bedrohten Gemeinschaften einzusetzen, so dass die Übergriffe meist straflos blieben. „Wenn es an Rechtsstaatlichkeit fehlt und Täter nicht zur Verantwortung gezogen werden, können Machthaber und Militärs ungestraft Zivilisten töten, vertreiben und foltern.“
Omar berichtet, es gebe drei große Herausforderungen für Menschenrechtsverteidiger in Somalia. Zum einen beruhe das gesamte Regierungssystem darauf, dass verschiedene Clans die Macht unter sich aufteilten. Größere Clans haben dabei mehr Privilegien als die Clans von Minderheiten. Dagegen könnten auch örtliche Gerichte wenig ausrichten. Außerdem sei vielen Opfern überhaupt nicht bewusst, dass sie auf juristischem Weg gegen Menschenrechtsverletzungen angehen oder auch Wiedergutmachung fordern könnten. Schließlich würden viele Verstöße wegen des Klimas der Straflosigkeit gar nicht erst gemeldet. Vor allem wenn es um sexuelle Übergriffe gegen Mädchen und Frauen gehe, verhindere die Angst vor Stigmatisierung oder möglichen Repressalien oft, dass die Opfer derlei Vergehen anzeigten.
Omar und seine Kollegen haben Dutzende Fälle dokumentiert, in denen die Regierung nichtstaatliche Menschenrechtsorganisationen und Aktivisten mit Restriktionen und Festnahmen drangsaliert hat. Einige von ihnen sind inzwischen zur Selbstzensur übergegangen, um nicht weiter zur Zielscheibe von Verfolgung zu werden. Im Jahr 2019 wies die Regierung den UN-Sondergesandten für Somalia, Nicholas Haysom, aus. Er hatte sich besorgt über einen Einsatz somalischer Sicherheitskräfte gegen Demonstranten geäußert, bei dem in der südwestlichen Stadt Baidoa mindestens 15 Menschen getötet und 300 festgenommen wurden.
Straflosigkeit ist die größte Hürde für Medienfreiheit in Somalia
Nicht nur Menschenrechtsaktivisten und Vertreter von Minderheiten, auch Journalisten werden häufig Ziel derartiger Angriffe. Somalia gehört seit vielen Jahren zu den gefährlichsten Orten der Welt, um dort journalistisch tätig zu sein. Zum siebten Mal in Folge steht das Land im äußersten Osten Afrikas an der Spitze der Liste des Komitees zum Schutz von Journalisten, die dokumentiert, wo und wie oft Menschenrechtsverletzungen an Journalisten – darunter auch Mord – ungestraft bleiben. Eben diese Straflosigkeit ist die größte Hürde für Medienfreiheit in Somalia. Bedauerlicherweise sind inzwischen viele Journalisten zur Selbstzensur übergegangen, um zu überleben. Oder sie haben ihren Beruf gleich ganz an den Nagel gehängt.
Autor
Abdalle Ahmed Mumin
ist freiberuflicher Journalist sowie Generalsekretär und Mitbegründer des Somali Journalists Syndicate für eine freie Presse. Er schreibt seit 20 Jahren über Menschenrechte und den Konflikt in Somalia.Im August 2020 wurde der Lokalradio-Reporter Mohamed Abdiwahab Nuur Abuuja ins Exil getrieben. Als Angehöriger der Minderheit der Bantu war er zuvor fünf Monate lang von der NISA in Mogadischu festgehalten und gefoltert worden; die meiste Zeit hatte er keinen Kontakt zur Außenwelt. Abuuja hatte kritisch über Misshandlungen durch die staatlichen Sicherheitskräfte geschrieben – am Tag danach wurde er verhaftet.
"Wir fürchteten, dass sie uns verhaften oder töten würden“
Anfa Aden Abdi, Menschenrechtsjournalistin für das SJS, hat sich während Abuujas Inhaftierung öffentlich für dessen Freiheit eingesetzt und dabei selbst den Zorn der Sicherheitskräfte auf sich gezogen. „In diesem Umfeld ist es kaum möglich zu arbeiten“, berichtet die 24-Jährige. „Wir werden tagtäglich angegriffen, bedroht und belästigt, weil wir Journalisten sind und uns für die Menschenrechte einsetzen. Sie nennen uns deshalb Verräter.“ Mehr als fünf Monate lang wurden die Räume des SJS vom nationalen Sicherheitsdienst beobachtet, erzählt sie. „Wir hatten Angst und sind nicht mehr jeden Tag ins Büro gekommen, weil wir fürchteten, dass sie uns verhaften oder töten würden.“
Abuuja durfte damals seinen Anwalt erst nach 92 Tagen Haft ohne Kontakt zur Außenwelt sehen. Zusammen mit ihm kam er vor ein Militärgericht, was dann nach fünf Monaten der Haft seine Freilassung anordnete. Die Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen gegen willkürliche Inhaftierungen (Working Group on Arbitrary Detention, WGAD) befand in einer Stellungnahme vom Juli 2021, dass die somalische Regierung Abuuja ohne rechtliche Grundlage seiner Freiheit beraubt und ihm sein Recht auf ein faires Gerichtsverfahren verweigert habe – und das nur weil er sein Recht auf freie Meinungsäußerung ausgeübt habe.
Darüber hinaus bemerkte die WGAD, die somalische Regierung habe Abuujas Recht auf Nicht-Diskriminierung verletzt. Sie betonte, „dass die Kritik des Journalisten Abuuja an der Regierung und seine Verfolgung daraufhin vor dem Hintergrund der verbreiteten Diskriminierung und Verfolgung der ethnischen Minderheit der Bantu verstanden werden muss“, zu der Abuuja gehöre. Zudem leitete die WGAD den Fall zur weiteren Betrachtung an den UN-Sonderberichterstatter über Folter weiter. Nach seiner Freilassung floh Abuuja aus Angst vor weiterer Verfolgung in die Türkei.
Bis heute hat die somalische Regierung Abuuja nach Angaben des SJS noch kein Recht auf Wiedergutmachung zugesprochen, so wie es die WGAD verlangt. „Die somalische Regierung hat noch nicht einmal die Umstände vollständig und unabhängig untersuchen lassen, die zu Abuujas Festnahme geführt haben, geschweige denn die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen“, sagt Abdi. „Straflosigkeit ist hier nach wie vor die Regel.“
Sehr oft sind die Opfer Frauen
Nur selten lassen Regierungsbehörden Staatsbeamte, die ihre Macht missbraucht haben, verfolgen und bestrafen – besonders wenn es um Angehörige von Militär oder Polizei geht. Sehr oft sind die Opfer Frauen. So verschwand beispielsweise im Juni 2021 die junge Regierungsangestellte Ikran Tahil Farah. Sie hatte sich in den Händen des nationalen Sicherheitsdienstes befunden und war offenbar entführt und ohne Verfahren hingerichtet worden. Der Sicherheitsdienst erklärte, die junge Frau sei von der al-Shabaab-Miliz entführt und getötet worden. Aber ein militärischer Untersuchungsausschuss berichtete, dass die Leitung der Nationalen Sicherheit eine genaue Untersuchung des Falls blockiert habe. „Das zeigt, wie sehr sich die Sicherheitslage für Frauen verschlechtert“, sagt Abdi.
Während die Gewalt gegen Frauen und Mädchen zunimmt, sorgen sich Menschenrechtsaktivisten momentan wegen einer Gesetzesvorlage, die die Verheiratung von 15-jährigen Mädchen ebenso wie Gewalt gegen Frauen in der Ehe erlaubt. Sie steht damit im Gegensatz zu internationalen Menschenrechtsbestimmungen, zu denen sich auch Somalia bekennt. Bestätigt das Parlament das Gesetz, wäre das nicht nur ein Verstoß gegen internationale Menschenrechtsabkommen, sondern auch ein großer Rückfall im Kampf gegen sexuelle Gewalt in Somalia. „Als Frau und Journalistin lebe ich in Somalia gefährlich“, sagt Abdi. „Aber ich bin entschlossen, weiter für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen in meinem Land einzutreten.“
Aus dem Englischen von Barbara Erbe.
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