Laut den jüngsten UN-Zahlen hungern weltweit etwa 735 Millionen Menschen - deutlich mehr als in den Jahren zuvor. Was sind die Ursachen?
Ralf Südhoff: Zunächst einmal müssen wir festhalten, dass der Kampf gegen den Hunger über viele Jahre relativ erfolgreich war. Es war bis 2013 innerhalb von zehn Jahren gelungen, über 260 Millionen Menschen aus dem Hunger zu befreien - trotz auch damals sehr starkem Bevölkerungswachstum. Nun gibt es leider eine Umkehr des Trends mit dramatischen Folgen.
Woran liegt das?
Südhoff: Eine der Hauptursachen ist der Klimawandel. Laut Studien erleben wir heute doppelt so viele Hungersnöte in von Klimakrisen getroffenen Ländern wie noch vor sechs Jahren. Die globale Landwirtschaft ist durch die Erderwärmung etwa 20 Prozent weniger produktiv. Hinzu kommen langwierige Konflikte, welche die Landwirtschaft in vielen Ländern zurückwerfen. All das hat auch zu einem starken Anstieg der Lebensmittelpreise geführt. Häufig wird massiv unterschätzt, dass die Preise bereits vor dem Ukraine-Krieg dramatisch gestiegen waren.
Russlands Präsident Wladimir Putin wird vorgeworfen, dass er mit seinem Krieg gegen die Ukraine für den Hunger in der Welt mitverantwortlich sei. Was hat der russische Angriffskrieg mit Hungerkrisen in Ländern wie Somalia oder Afghanistan zu tun?
Südhoff: Vor allem der Stopp der ukrainischen Getreideexporte über das Schwarze Meer verschärft die Situation, etwa die Hälfte der ukrainischen Ernte ging in Länder des Globalen Südens. Das Hautproblem liegt aber woanders.
Nämlich?
Südhoff: Das Welternährungssystem ist extrem fragil und unausgeglichen. Viele Länder des Globalen Südens sind extrem abhängig von Importen, obwohl sie früher teils substanzielle Agrarproduzenten waren. Auch auf Rat von Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds haben Staaten etwa am Horn von Afrika, wo heute eine Hungerkrise herrscht, begonnen, sich auf den Anbau von Exportprodukten wie Kaffee, Blumen oder Cashews zu konzentrieren und Grundnahrungsmittel zu importieren. Deshalb kann der Ausfall von einem einzelnen Lieferanten - wie jetzt der Ukraine - überhaupt zu einer Welternährungskrise beitragen.
Werden die Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf die weltweite Ernährungskrise überschätzt?
Südhoff: Ja, und die große Gefahr ist, dass man die Hungerkrise am Ukraine-Krieg festmacht. Wir haben eine Welternährungskrise, auch wenn morgen der Krieg zu Ende ist.
Mit den UN-Nachhaltigkeitszielen hat sich die Staatengemeinschaft das Ziel gesetzt, den Hunger bis 2030 zu beenden. Ist das noch in Reichweite?
Südhoff: Das ist völlig undenkbar und wird uns auch in den kommenden 20 Jahren nicht gelingen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn der Hunger bis 2030 wieder halbiert würde. Dafür müsste aber jetzt mehr in Klimaschutz und nachhaltige Agrarprogramme investiert werden. Auch die afrikanischen Länder müssten mehr Geld in ihre Landwirtschaft und Agrarsysteme stecken.
Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) betont, dass die Bundesregierung die lokale Nahrungsmittelproduktion in ärmeren Ländern stärken will. Ist das der richtige Weg?
Südhoff: Auf jeden Fall. Aber damit kommt man nicht weit, solange nicht mehr gegen den Klimawandel getan wird, der viele Vorhaben und kluge Agrarprogramme zunichtemacht.
Im Haushaltsentwurf der Bundesregierung sind für das kommende Jahr Kürzungen im Etat des Entwicklungsministeriums vorgesehen. Welches Signal sendet das an Länder des Globalen Südens?
Südhoff: Die Bundesregierung setzt damit ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Einerseits wird betont, dass Länder des Globalen Süden eine Allianz gegen den russischen Angriffskrieg schmieden sollen. Andererseits lässt man selbst Hungernde im Stich. Die humanitäre Hilfe soll sogar um fast 40 Prozent gekürzt werden. Länder wie Brasilien und Südafrika kritisieren bereits, dass ihre Kontinente vergessen werden, wenn Geld nur noch für die Unterstützung der Ukraine bereitstehe.
Das Gespräch führte Moritz Elliesen (epd).
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