„Es braucht Analyse, Hoffnung und eine Portion Zorn“

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UN-Nachhaltigkeitsziele
Tillmann Elliesen, welt-sichten
Bei der Konferenz „Die Zeit zu handeln ist jetzt!“ zogen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Halbzeitbilanz der UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs). Bei einer Podiumsdiskussion dabei waren (von links) Stefan Brunnhuber, Ökonom und Mitglied des Club of Rome; Elga Bartsch, Abteilungsleiterin Wirtschaftspolitik im BMWK; Moderator Stephan Kosch, Magazin Zeitzeichen; Ulrich Lilie, Präsident Diakonie Deutschland und Stefan Zahn, Churches for Future, Leipzig.
UN-Nachhaltigkeitsziele
Wo stehen wir bei der Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele? Kirchliche Institutionen sind dem mit einer Veranstaltung in Berlin nachgegangen und fragen auch, welchen Beitrag Religion und Spiritualität leisten können, um im Kampf für eine bessere Welt den Mut nicht zu verlieren.

Am Ende der Veranstaltung schließt sich der Kreis und es geht wieder um Strukturen politischer und wirtschaftlicher Macht. Weil die global so sind, wie sie sind, fällt die Halbzeitbilanz zu den UN-Nachhaltigkeitszielen (SDGs) ernüchternd aus: Nur bei 12 Prozent der Ziele und Unterziele ist die Welt laut den Vereinten Nationen auf Erfolgskurs, bei der Hälfte sind die Fortschritte unzureichend und bei knapp einem Drittel gibt es sogar Rückschritte, etwa bei der Hungerbekämpfung und beim Artenschutz. 

Imme Scholz, Vorständin der Heinrich-Böll-Stiftung und Ko-Vorsitzende einer von den UN eingesetzten internationalen Wissenschaftlergruppe zu den SDGs, präsentierte diese Zahlen zum Auftakt der Konferenz „Die Zeit zu handeln ist jetzt!“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der Diakonie, dem Hilfswerk Brot für die Welt und der Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen im Juni in Berlin. Der Ökonom Stefan Brunnhuber, Mitglied des Club of Rome, sagte dann in der abschließenden Podiumsdiskussion: „Unsere Generation und die vorherige haben gefrühstückt und die Rechnung nicht bezahlt.“ Fünf bis sieben Billionen US-Dollar seien erforderlich, um die SDGs wie geplant bis zum Jahr 2030 zu erreichen. Da aber 85 Prozent des Vermögens weltweit in Privathand seien, stelle sich die Frage: Wie herankommen an dieses Geld?

Die SDGs tasten Machtstrukturen gar nicht an

Es war Boniface Mabanza Bambu von der Kirchlichen Arbeitsstelle Südliches Afrika zu verdanken, dass die Frage nach der Macht am ersten Tag der Konferenz den gebührenden Stellenwert erhielt. „Ich wundere mich darüber, dass wir uns hier darüber wundern, dass wir bei den SDGs da stehen, wo wir stehen“, sagte er. Es klang wie ein Stoßseufzer nach den von Imme Scholz vorgetragenen Zahlen – und nach den Beteuerungen von Entwicklungsministerin Svenja Schulze in einem Kurzinterview zu Beginn der Veranstaltung. Sie sagte, es gehe zu langsam mit den SDGs und es müsse jetzt wirklich mehr getan werden, etwa mithilfe der in ihrem Hause erdachten feministischen Entwicklungspolitik

Mabanza legte den Finger in die Wunde, indem er auf den maßgeblichen Webfehler der SDGs hinwies: Sie tasten Machtstrukturen gar nicht an, sie berufen sich nicht auf verbindliche Menschenrechte, so dass sie das Streben nach Nachhaltigkeit zu einer freiwilligen, unverbindlichen Unternehmung machen. Es ist kein Zufall, dass es die größten Fortschritte beim Unterziel gibt, den Menschen weltweit Zugang zu Mobiltelefonie und zum Internet zu verschaffen. Damit lässt sich ja auch gut Geld verdienen.

Unzufriedenheit regte sich im Publikum, nachdem Imme Scholz erläutert hatte, wie sich die UN-Wissenschaftlergruppe den Ausweg aus der Krise vorstellt. Da war viel von Governance und Capacity Building die Rede und von einem SDG Transformation Framework for Accelerated Action, also einem Rahmen, der helfen soll, die erforderliche Transformation zu beschleunigen. Das sei ihm zu technokratisch, rief ein Teilnehmer: Wenn „wir“ wirklich komplett anders leben müssen, müssten dann nicht Fragen der Kultur und Wertvorstellungen eine viel größere Rolle spielen? Darum ging es dann in einigen der Workshops der zweitägigen Konferenz, in denen die zuweilen holzschnittartigen Thesen und Aussagen der Vorträge heruntergebrochen und vertieft wurden. 

Spiritualität als Kraft für den Kampf

Da wurde etwa darüber diskutiert, wie die Theologie und der Glaube ökologisches Handeln aktivieren können. In vielen Gemeinschaften im globalen Süden sind Religion und Spiritualität viel unmittelbarer als im säkularisierten Westen Motive für ein Handeln, das die Welt verbessern will – vor allem dort, wo staatliche und gesellschaftliche Institutionen versagen oder solches Handeln sogar unterdrücken. Da kämpft in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie Jesus Seite an Seite mit den Unterdrückten, da äußert sich Gott in afrikanischen Glaubenssystemen im Zustand der Natur und teilt dem Menschen auf diese Weise mit, was er von seinem Tun hält. Das muss man nicht alles nachvollziehen können, aber es ist interessant zu lernen, auf welche Weise der Glaube in verschiedenen Kontexten Kraft gibt, den Kampf gegen Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung weiterzuführen.

Für Kristina Kühnbaum-Schmidt, Landesbischöfin der Nordkirche und EKD-Beauftragte für Schöpfungsverantwortung, geht es um die Frage, wie wir uns als Mensch und als Geschöpfe dieses Planeten sehen. Wenn das Leben als Gabe aus Gottes Hand erfahren werde, öffne sich der Blick auf alles Lebende. Und in Krisenzeiten wie diesen, sagte Kühnbaum-Schmidt, helfe es, das nicht Erwartbare zu erwarten und damit leben zu können. Um Veränderungen voranzubringen, brauche es Analyse, Hoffnung und auch eine Portion Zorn, sagte Dagmar Pruin, die Präsidentin von Brot für die Welt. 

Unterm Strich gab die Veranstaltung einen guten Überblick über die Hürden, die zu überwinden sind, wenn die Welt den SDGs in den kommenden siebeneinhalb Jahren bis 2030 sichtbar näherkommen will. Zugleich machte sie deutlich, welchen Beitrag die Kirchen sowie Religion und Glaube dazu beitragen können. 

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