„Haiti wird vergessen“

picture alliance / AA/Guerinault Louis
Sintflutartiger Regen verwüstet Anfang Juni die Stadt Leogane im Süden von Haiti. Zwei Frauen räumen auf. Das Land leidet unter Naturkatastrophen und Bandengewalt - und bekommt international dennoch kaum Aufmerksamkeit.
Schweiz
Die Schweiz stellt noch dieses Jahr die bilaterale Zusammenarbeit mit Haiti ein – und das in einer sehr schwierigen Zeit für das Land. Esther Belliger vom Hilfswerk Helvetas erklärt, was das für die Arbeit vor Ort bedeutet.

Esther Belliger ist Regionalkoordinatorin für Lateinamerika und die Karibik beim Schweizer Hilfswerk Helvetas.

Frau Belliger, Haiti gerät aufgrund der eskalierenden Gewalt immer wieder in die Schlagzeilen. Wie erleben Helvetas und Ihre Projektpartner die Situation vor Ort?
In der Hauptstadt Port-au-Prince ist die Gewalt außer Kontrolle. Seit der Ermordung des haitischen Präsidenten Jovenel Moise im Sommer 2021, haben die rivalisierenden Banden ihren Einfluss zunehmend ausgebaut, sie kontrollieren mindestens drei Viertel der Stadt. Es regiert die Angst, die Menschen gehen nur aus dem Haus, wenn es unbedingt sein muss. Dazu kommt eine Cholera-Epidemie und auch Corona-Infektionen häufen sich wieder. Wer kann, verlässt die Stadt oder sogar das Land. Und diejenigen, die bleiben, fangen teilweise an, sich selbst mit Waffen zu verteidigen. Das ist grausam.

Wie ist es im Rest des Landes?
In den anderen Landesteilen gibt es keine Bandengewalt wie in der Hauptstadt, die Menschen können sich frei bewegen. Trotzdem kämpfen sie mit Armut, mit den Folgen des Klimawandels wie Dürren und Überschwemmungen und anderen Naturkatastrophen wie Erdbeben. Laut dem UN-Welternährungsprogramm leidet Haiti aktuell an der schlimmsten Hungersnot seiner Geschichte. Hinzu kommt die Inflation. 

In dieser Lage beendet die offizielle Schweiz die bilaterale Zusammenarbeit mit Haiti. Ein schlechter Moment.
In der Tat. Die Regierung will die Zusammenarbeit mit Lateinamerika und der Karibik beenden, um sich auf andere Regionen zu fokussieren, darunter Afrika, den Nahen Osten, Asien und aktuell die Ukraine. Ich bin froh, dass sich das Departement für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) entschieden hat, zumindest mit einem humanitären Büro vor Ort zu bleiben. 

Was bedeutet der Rückzug für die Projekte von Helvetas?
Eines unserer Projekte, das die DEZA finanziert hat, müssen wir bereits auf Ende Juli einstellen, wir konnten die Finanzierung dafür nicht aus anderen Quellen sichern. Das Projekt hat Kleinbauern darin unterstützt, neue Sorten anzupflanzen, ihre Ernteerträge zu steigern und ihre Erzeugnisse besser zu lagern und zu vermarkten. Es war auf zwölf Jahre angelegt, nun wird es nach fünf Jahren eingestellt. Da ist es natürlich unmöglich, die gesteckten Ziele zu erreichen. Das ist schlimm für alle Beteiligten. Für ein anderes Projekt, das wir im Auftrag der DEZA ausgeführt haben, konnte ein Folgeprojekt über zweieinhalb Jahre entwickelt werden. Darüber bin ich sehr froh. Es geht darum, die Wasserversorgung des Landes zu dezentralisieren, damit sie auch auf kommunaler Ebene zur Verfügung steht.

Gibt es andere Geldgeber, die in die Bresche springen?
Derzeit verhandeln beispielsweise wir mit der Weltbank, die an einer Zusammenarbeit mit uns interessiert ist. Bei einem anderen Projekt arbeiten wir mit dem UN-Entwicklungsprogramm zusammen. Das ist gut, aber die Finanzierung wird weniger langfristig sein und geringer ausfallen. Auch fehlt jetzt das Gesicht der offiziellen Schweiz vor Ort, das sehr wertvoll war für die Außenwahrnehmung.

Die DEZA selbst spricht in einem Bericht von einem „verantwortungsvollen“ Ausstieg und betont den sogenannten Nexus-Ansatz der humanitären Hilfe. Was bedeutet das?
Das bedeutet, dass über die humanitäre Hilfe hinaus eine langfristige Zusammenarbeit beim Wiederaufbau und bei der Vorbereitung auf mögliche Katastrophen angestrebt wird. Auch soll die Entwicklung Haitis weiterhin über multilaterale Kanäle unterstützt werden. Aber diese Hilfe wird deutlich tiefer ausfallen als davor.

Sehen Sie Fortschritte der Entwicklungszusammenarbeit der letzten Jahre in Haiti?
Ja, besonders was die Bewusstseinsbildung angeht. Bürgermeisterbeispielsweise sehen zunehmend wie wichtig es ist, im Dienste der Bevölkerung zu handeln, sich etwa für eine funktionierende Wasserversorgung einzusetzen. Doch Veränderungen brauchen Zeit. Deswegen ist der Nexus-Ansatz so wichtig. Das Problem ist, dass Haiti vergessen wird in der aktuellen Weltlage. Viele Mittel aus Europa fließen vermehrt in die Ukraine. Das Problem ist, dass Haiti nie richtig die Möglichkeit hatte, sich zu entwickeln. Da liegt meiner Meinung nach noch viel Potenzial.

Das Gespräch führte Samanta Siegfried.

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