Bisher hat die Schweiz mehrere Gesuche europäischer Länder abgelehnt, Schweizer Kriegsmaterial an die Ukraine weiterzugeben. Die Regierung verwies dabei auf die erst kürzlich beschlossene Verschärfung des Bundesgesetzes über das Kriegsmaterial, welches es verbietet, Waffen an Krieg führende Staaten weiterzugeben. Diese ablehnende Haltung hat der Schweiz international viel Kritik eingebracht.
Viele Parlamentarierinnen und Parlamentarier fordern von der Regierung, sie solle das Gesetz ändern. Außer den Grünen haben alle Parteien ihre Unterstützung zugesagt, sogar die sozialdemokratische SP, die noch vor kurzem restriktivere Regelungen beim Kriegsmaterialexport erkämpft hat. Außerdem wird aktuell darüber diskutiert, ob die Schweizer Armee ihre gelagerten Leopard-2-Panzer an europäische Staaten weitergeben kann, so dass diese ihre Bestände aufstocken können, aus denen sie ihrerseits der Ukraine Panzer geliefert haben.
Bundespräsident traf im Herbst Selenskyj
Entscheidungen zu all diesen Fragen gibt es noch nicht. Derweil setzt die Schweiz ihre diplomatischen Stärken ins Zentrum, etwa als Gastgeber der Ukraine Recovery Conference im Juli 2022, bei der die „Lugano-Deklaration“ erarbeitet wurde. Darin sichern die Vertreter von mehr als 40 Staaten der Ukraine volle Unterstützung beim Wiederaufbau zu und bekräftigen, dass Integrität, Transparenz und Rechenschaftspflicht für den Erfolg des Wiederaufbaus unerlässlich seien. Außerdem wurde festgehalten, dass alle Wiederaufbau-Gelder „fair und transparent“ eingesetzt werden müssten.
In diesem Zusammenhang reiste Bundespräsident Ignazio Cassis im vergangenen Herbst in die Ukraine und traf dort Präsident Wolodymyr Selenskyj. Im Zentrum der Gespräche standen laut einer Mitteilung des Schweizer Außenministeriums EDA die Kriegssituation und der Bedarf an humanitärer Hilfe. Außerdem sprachen Selenskyj und Cassis über einen Plan für den Wiederaufbau des Landes.
Die Schweiz pflege mit der Ukraine seit 1991 gute und vielfältige diplomatische Beziehungen, schreibt das EDA. Auf dieser Grundlage habe man rasch auf die dringenden Bedürfnisse vor Ort reagieren können. Seit Beginn des Krieges hat die Humanitäre Hilfe über 680 Tonnen Hilfsgüter wie Zelte, Medikamente und Krankenhausbetten aus der Schweiz in die Ukraine transportiert und über 4750 Tonnen Nahrungsmittel in der Ukraine gekauft und an die Bevölkerung verteilt. Aktuell liefert die Schweiz Material zur Brandbekämpfung und Trümmerräumung. Ein weiterer Schwerpunkt ist laut EDA die Energieversorgung; die Schweiz liefert etwa Heizungen, Stromgeneratoren und Winterkleidung. In den zugänglichen Gebieten arbeiten Spezialisten des Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe in mittelfristigen Projekten in den Bereichen Wasser, Gesundheit und Schutz der Zivilbevölkerung.
Schweizer Bildungsprogramme in der Ukraine
Seit dem Angriff Russlands hat die Schweiz ihre langfristigen Programme in der Ukraine laufend angepasst. Ein Beispiel ist das Projekt E-Governance for Accountability and Participation (EGAP), das vor dem Krieg ukrainische Gemeinden bei der Digitalisierung ihrer Dienstleistungen unterstützt hat, um unter anderem die Bürgerbeteiligung zu fördern. Heute warnt die Plattform die Bevölkerung vor Bedrohungen aus der Luft oder informiert über explosive Objekte wie Blindgänger. Zudem können Intern Vertriebene Personen eine Plattform nutzen, die vom Projekt unterstützt wird, um sich zu registrieren und somit weiterhin öffentlichen Dienstleistungen zu bekommen.
Ein anderes Beispiel ist das Projekt Decentralization for Improved Democratic Education (DECIDE), mit dem ursprünglich die Dezentralisierung im ukrainischen Schulsystem gefördert werden sollte. Während der Covid-19-Pandemie ist daraus die Plattform „All-Ukrainian Online School“ entstanden, die Schülerinnen und Schülern virtuelles Schulmaterial zur Verfügung stellt. Seit dem Angriff auf die Ukraine wird diese Plattform von vielen Kindern genutzt, die keine Schule besuchen können.
Cassis: Wir wollen Verantwortung übernehmen
Außerdem wurde eine Website eingerichtet, auf der Ukrainerinnen und Ukrainer, die Opfer russischer Aggression geworden sind, beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einen Antrag auf Entschädigung stellen können. „Drei Millionen Menschen haben die Seite besucht und 7600 haben das Formular ausgefüllt“, sagte die Landesprogrammbeauftragte und Expertin für Regierungsführung bei der DEZA, Ilona Postemska, gegenüber der Zeitschrift „Eine Welt“.
Letztes Jahr hat die Schweiz im Rahmen ihrer Entwicklungszusammenarbeit die Ukraine mit rund 250 Millionen Franken unterstützt. In einem Interview mit dem Schweizer Radio und Fernsehen bestätigte Bundespräsident Cassis, dass für den Wiederaufbau viel höhere Beiträge zugesagt werden müssten. „Wir sind willig, im Bundesrat unseren Anteil der Verantwortung zu übernehmen“, sagte Cassis. Ob auch gesperrtes russisches Vermögen verwendet wird, wie vielfach gefordert, hält er für möglich, verweist dabei jedoch auf den noch fehlenden Rechtsrahmen.
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