Vor fast 30 Jahren, im Mai 1994, hat Algerien ein mit dem Internationalen Währungsfonds ausgehandeltes Strukturanpassungsprogramm unterschrieben. Es sah unter anderem vor, das Monopol des Staates im Außenhandel aufzuheben. Seitdem ist der Handel fast völlig in den Schattenbereich ausgewichen. Der Export liegt nach wie vor in den Händen eines einzigen Unternehmens, des staatlichen Öl- und Gaskonzerns Sonatrach (verantwortlich für mehr als 90 Prozent der Ausfuhreinnahmen). Der Import aber ist die Sache von Zehntausenden Privatakteuren, von denen die große Mehrheit keine oder allenfalls geringe Steuern und Sozialabgaben abführt. Diese Parallelwirtschaft, von der in Algerien mindestens jeder zweite Arbeitsplatz abhängt, operiert großenteils außerhalb von jedem Rechtsrahmen.
Man operiert in Algerien selten nur „ein bisschen“ informell, häufiger ziemlich viel und noch öfter vollständig – vor allem im Handel. Inwieweit dabei im Einzelfall Gesetze und Vorschriften beachtet werden, ist sehr unterschiedlich. Genaueres über den Sektor zu sagen oder Zahlen anzugeben, ist sehr schwierig, da das Thema die algerische Regierung nicht interessiert. Zwar beklagt sie gern die hohen Summen an Schwarzgeld, aber sie hat keinerlei Studie zu dem Thema veröffentlicht. Und internationale Institutionen wie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank, die die algerische Wirtschaft beobachten, zeigen sich kaum neugieriger.
Die Folgen für die algerische Wirtschaft und die Algerier sind jedoch äußerst schwerwiegend. Das Steueraufkommen von außerhalb des Ölsektors, das überwiegend aus Abgaben auf den Konsum stammt wie etwa Mehrwertsteuer und Zölle, erreichen kaum die Hälfte des Niveaus vergleichbarer Länder. Die sozialen Sicherungssysteme sind von der Pleite bedroht; die mangels Beitragszahlungen völlig ausgeblutete Krankenversicherung überlebt nur dank Zuschüssen vom Staat. Das Ergebnis ist ein Haushaltsdefizit in Rekordhöhe, das in schlechten Jahren ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts erreicht. Die Landeswährung, der Dinar, rutscht Jahr für Jahr weiter ab und hat seit September 2001 die Hälfte seines Werts eingebüßt.
Die Säulen des Bereicherungssystems
Doch der informelle Sektor ist für die daran Beteiligten auch ein prächtiges Geschäft. An die Stelle der staatlich verwalteten Wirtschaft aus der Zeit vor 1980 ist nach und nach ein Modell getreten, das eine unbestreitbare Dynamik verbindet mit der Bereicherung derjenigen, die ohnehin schon etwas besitzen. Dieses System ruht von Anfang an auf drei Säulen: Handel, Landwirtschaft und Immobilien.
Autor
Jean-Pierre Sereni
ist Journalist und Autor mehrerer Bücher über den Maghreb, die Golfstaaten, Energiefragen und große Unternehmen. Er ist Mitglied der Redaktion von https://orientxxi.info, dort ist das französische Original seines Beitrags erschienen.Anderes Beispiel: Ein Schaf ist wichtiger Bestandteil großer religiöser Feste, und Familien suchen sich zum islamischen Opferfestes vor allem auf dem Land welche zu verschaffen. Und Schafe sind in Algerien so teuer wie nirgendwo sonst in der arabischen Welt, abgesehen von Palästina: etwa 70.000 Dinar – fast 500 Euro – pro Schaf. Für Dienstleistungen gilt Ähnliches.
Ein halbwegs cleverer Taxifahrer bringt es auf 10.000 Dinar (71 Euro) am Tag, zum Teil, weil das stark subventionierte Benzin so billig ist. Das ist die Hälfte des von der Regierung festgesetzten monatlichen Mindestlohns, und an den halten sich wenige Arbeitgeber. Ein Restaurant mitten im Zentrum von Algier liefert seinen Kunden Gerichte nach Hause – sie kosten 1000 Dinar (7 Euro), was dem Wirt eine beträchtliche Gewinnspanne lässt.
Brot, Couscous, Pflanzenöl, Zucker und Energie (Gas, Strom und Treibstoff) liefert in Algerien der öffentliche Sektor zu sehr niedrigen Preisen, diese Güter sind auf Kosten des Staatshaushalts hoch subventioniert. Die restliche Konsumnachfrage aber wird vom informellen Sektor gedeckt, und der bezieht seine Waren, insbesondere Textilien, hauptsächlich aus China und der Türkei. Letztere ist innerhalb weniger Jahre zu einem Hauptlieferanten Algeriens aufgestiegen, fast schon gleichauf mit Frankreich. Die Schattenwirtschaft versorgt auch einen sehr einträglichen Markt mit vielen Millionen Konsumenten in den Städten, vor allem im sehr spekulativen Handel mit Obst und Gemüse, das ausschließlich der informelle Sektor liefert.
Devisen für die Einkäufe im Ausland besorgt er sich nicht über Banken, sondern auf dem Schwarzmarkt. Mitten in Algier auf dem früheren Square Besson, der jüngst in Square Port-Saïd umbenannt worden ist, tummeln sich Hunderte Geldwechsler. Sie bieten ganz offen für einen Dollar oder Euro 30 bis 40 Prozent mehr Dinar an, als es dem offiziellen Wechselkurs entspricht, und fragen nicht nach dem Verwendungszweck.
Aufkauf von Ländereien und Abriss alter Villen
Die Gewinnmargen im informellen Sektor finanzieren ein schwindelerregendes Wachstum des Reichtums. Ein Teil davon wird ins Ausland gebracht, ein anderer aber zum Aufkauf von Ländereien verwendet, die ehemals unter Kolonialverwaltung standen und dann nach der Unabhängigkeit verstaatlicht worden waren. Diesen sozialistischen Sektor, zwei Millionen Hektar besten Landes, hat 1987 Landwirtschaftsminister Kasdi Merbah aufgelöst, der vormals gefürchtete Chef der Sicherheitsdienste. So entstanden damals etwa 100.000 individuelle landwirtschaftliche Betriebe und eine Handvoll Kooperativen.
Doch 35 Jahre danach hat kaum einer der Nutznießer je einen Besitztitel bekommen. Sie werden auf ihrem Land alt und können ihren Betrieb nicht modernisieren, weil sie mangels Rechtstitel keinen Zugang zu landwirtschaftlichen Krediten haben. Kein Wunder, dass mehr und mehr von ihnen zum Verkauf bereit sind. Und an wen? Eine Farm von 12 Hektar in der Region Tlemcen im Westen zum Beispiel geht für den Gegenwert von 60.000 Euro an einen Dienstleistungsunternehmer, der sein Geld im informellen Sektor gemacht hat und sich am Fehlen des Besitztitels nicht stört. Er ist sich seines Einflusses und seiner sozialen Stellung sicher. Informatiker, Geschäftsleute, Betreiber von Autowerkstätten und Handwerker kaufen reihenweise Höfe auf und stellen oft die vorherigen Besitzer als Landarbeiter für die Bewirtschaftung an. Sie modernisieren die Produktion, kaufen Maschinen, bauen Scheunen, lassen Brunnen bohren.
Wer mehr Ehrgeiz hat, versucht es mit Immobilien. Während der Staat weit draußen in den Vororten große Wohnkomplexe errichtet, die schlecht an die Infrastruktur angebunden sind, werfen die Privaten ein Auge auf die Stadtzentren. Die alten Villen aus der Kolonialzeit in Algier, Oran oder Sétif verschwinden rasch. Unternehmungsfreudige Bauunternehmer kaufen sie für wenig Geld, reißen sie ab und errichten an ihrer Stelle Gebäude mit vier oder fünf Etagen – ohne Charme, aber mit den heiß begehrten Tiefgaragen. In Algier kann man eine schlichte Villa auf einem Grundstück von 300 Quadratmetern mit Garten leicht für 190 bis 200 Millionen Dinar erwerben, 1,35 bis 1,42 Millionen Euro. Darauf lassen sich Apartments mit insgesamt 3000 Quadratmetern Wohnfläche errichten, die sich für insgesamt rund 85 Millionen Euro losschlagen lassen. Der Einsatz wird so versechsfacht.
Aus dem Französischen von Thomas Wollermann.
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