Drahtseilakte gegenüber Moskau

Edda Schlager
An einer Demonstration in Almaty Anfang März nahmen rund 2.000 Menschen teil, um ihre Unterstützung für die Ukraine zu erklären. Der Ukraine-Krieg führt in ganz Zentralasien zu einem stärkeren Fokus auf die Unabhängigkeit der eigenen Heimatländer, die Aufwertung der lokalen Sprachen und ein Bewusstsein für russische Kolonialgeschichte.
Zentralasien
Der Krieg in der Ukraine bringt die zentralasiatischen Länder in eine heikle Lage, denn sie sind auf gedeihliche Beziehungen zu Moskau angewiesen – auch wirtschaftlich. Doch sie nehmen nun gern qualifizierte Russen auf und der Ruf wird lauter, sich weiter vom großen Nachbarn zu lösen.

Zwei Wochen, nachdem Russland die Ukraine überfallen hatte, war für Vladislav Kirilin klar: „Ich muss weg aus Russland!“ Die ersten Tage des Krieges habe er in Schockstarre verbracht, entsetzt über die Aggression seines Heimatlands, erzählt der 50-jährige Russe. Dann habe er angefangen, darüber nachzudenken, wohin er gehen könnte.

Der IT-Ingenieur, der mit seiner Frau und den drei Kindern in einem Vorort von Moskau lebt, erzählt seine Geschichte in einem Straßencafé im kasachischen Almaty. Er hat in einem international tätigen US-amerikanischen Unternehmen in Moskau gearbeitet, das aber hat die dortige Niederlassung in Folge der Sanktionen gegen Russland geschlossen. Auch deshalb will Kirilin mit seiner Familie nun nach Almaty umsiedeln. „Seit 2009 habe ich in Kasachstan verschiedene Projekte als IT-Consultant umgesetzt“, erzählt er. „Man kennt mich auf dem hiesigen Markt, und ich habe Freunde hier, die mir helfen.“

Seit Anfang April nun prüft Kirilin in Almaty Optionen für den Umzug seiner Familie nach Kasachstan. Die Gleichgültigkeit vieler Russen gegenüber dem Krieg in der Ukraine ist ein Grund, seine Heimat zu verlassen. Doch Kirilin will auch ein anderes Umfeld für seine drei Kinder. Die Schüler in der Klasse seines 14-jährigen Sohnes seien vom Lehrer zu ihrer Haltung gegenüber der sogenannten militärischen Spezialoperation befragt worden. „Mein Sohn war einer von wenigen, die sie nicht befürworteten. Seitdem wird er in der Schule unter Druck gesetzt“, so Kirilin. „Ich will meine Kinder einfach vor dieser Propaganda schützen.“ Zwei Jobangebote hat er in Almaty schon. „Viele internationale Unternehmen schließen gerade ihre Niederlassungen in Russland“, sagt er. In Zentralasien aber bestehe großer Bedarf an Spezialisten wie ihm.

Russische IT-Experten sind gefragt

Mittlerweile haben geschätzt 300.000 – meist hoch qualifizierte – Russen wegen des Ukraine-Krieges ihre Heimat verlassen. Zehntausende sind nach Armenien, Georgien oder in die Türkei gegangen. Nicht ganz so viele zieht es nach Zentralasien, eine Region mit insgesamt rund 60 Millionen Einwohnern, auf die man in Russland meist abfällig herabsieht. Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan sind die Herkunftsländer vieler Arbeitsmigranten in Russland, die dort oft minderqualifizierte, schlecht bezahlte Arbeiten ausführen, als Bauarbeiter, Taxifahrer oder Straßenfeger. Kasachstan gilt vielen Russen als „zu weit weg“, wie Kirilin erzählt, dabei verbindet beide Länder eine 7500 Kilometer lange Grenze. Turkmenistan ist politisch ähnlich abgeschottet wie Nordkorea und für Russen uninteressant.

Wie viele Russen seit Beginn des Krieges in die zentralasiatischen Länder gekommen sind, ist unklar. In Kasachstan haben laut dortigem Innenministerium im ersten Quartal dieses Jahres rund 12.000 russische Staatsbürger eine so genannte individuelle Identifikationsnummer beantragt, die auch als Steuernummer dient. Das kirgisische Ministerium für digitale Entwicklung sagt, es habe allein im März gut 10.300 russische Migranten registriert. Nach Usbekistan sollen rund 5000 ausgewandert sein. Vor allem russischen IT-Fachleuten wird in Zentralasien derzeit der rote Teppich ausgerollt.

Krieg in der Ukraine: „Wir stehen auf keiner Seite“

Doch wie steht Zentralasien zum Ukraine-Krieg? Tatsächlich vollbringen die Länder derzeit einen schwierigen Balanceakt, sie versuchen, eine neutrale Position einzunehmen. Der Ukraine-Krieg erscheint für alle dieser Länder als höchst unwillkommene Zwangslage, sich vor allem Russland gegenüber als Freund oder Feind bekennen zu müssen. „Wir stehen auf keiner Seite“, heißt es inoffiziell in diplomatischen Kreisen Kasachstans. Doch kürzlich wurde der kasachische Vize-Außenminister Roman Vassilienko in der deutschen Tageszeitung „Welt“ zitiert: „Wenn es wieder einen Eisernen Vorhang gibt, dann wollen wir nicht dahinter sein. Deshalb hoffen wir, dass er nicht wieder fallen wird.“

Sowohl Kasachstan als auch Usbekistan erkennen die so genannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk in der Ukraine nicht an, wie die beiden Außenminister jüngst erklärten. Ein offener Affront gegen Russland! Den langjährigen usbekischen Außenminister Abdulaziz Kamilov hat sein Statement – möglicherweise auf Intervention Russlands hin – sein Amt gekostet. Ende April wurde er entlassen und zum Vizechef des usbekischen Sicherheitsrates degradiert.

Wirtschaftliche Abhängigkeit vom großen Nachbarn

Ölfeld bei Atyrau im Westen Kasachstans. Das Land ist eines der rohstoffreichsten der Erde und exportiert Öl, Gas und Erze vor allem nach Russland. Dafür ist es von Importen verarbeiteter Produkte aus Russland abhängig. Die Sanktionen gegen Russland haben deshalb auch für Kasachstan schwere Folgen.
Traditionell gilt Zentralasien mit seinen fünf 1991 unabhängig gewordenen früheren Sowjetrepubliken als russlandtreu – und abhängig vom großen Nachbarn im Norden. Russland ist für alle diese Länder neben China und der Europäischen Union der wichtigste Handelspartner. Kasachstan und Kirgistan gehören, neben Belarus und Armenien, der 2015 gegründeten Eurasischen Wirtschaftsunion EAWU an. Innerhalb der EAWU wurden im Jahr 2021 Güter im Wert von insgesamt 72,6 Milliarden US-Dollar gehandelt, eine Steigerung um gut 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr und immer noch um knapp 20 Prozent gegenüber 2019, vor der Corona-Pandemie. Allein in Kasachstan kommen mehr als ein Drittel der Importe aus Russland, in Kirgistan knapp ein Drittel.

Die zentralasiatischen Staaten importieren aus Russland vor allem verarbeitete Produkte, weil der wertschöpfende, verarbeitende Sektor in Zentralasien verhältnismäßig wenig entwickelt ist. Typische Importprodukte aus Russland sind Maschinen, chemische Erzeugnisse, Fahrzeuge oder Lebensmittel. Die rohstoffreichen Länder Zentralasiens, Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan, wiederum exportieren vor allem Erdöl und Erdgas, Kasachstan auch Kupfer, Aluminium, Zink oder Nickel.

Russland als wichtiger Sicherheitspartner für die Region

Wegen der engen Verbindung haben die Sanktionen auf Russland auch unmittelbare Folgen für Zentralasien. Mit dem Absturz des Rubels steigen die Preise für Importe aus Zentralasien in Russland stark an, da diese überwiegend in Devisen bezahlt werden müssen, und schwächen den Exportsektor in Zentralasien. Die lokalen Währungen in Zentralasien werteten nach Beginn des Ukrainekriegs um 15 bis 20 Prozent ab, stabilisierten sich aber mit dem Rubel erneut.

Zudem ist Russland ein wichtiger Sicherheitspartner für die Region. Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan gehören gemeinsam mit Russland, Belarus und Armenien der 1992 gegründeten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit OVKS an. Seit Jahren hat Russland Truppen an der tadschikisch-afghanischen Grenze stationiert, als Bollwerk gegen Übergriffe islamistischer Extremisten.

Asel Doolotledieva, Politologin an der OSZE-Akademie in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek, analysiert die sowohl politisch als auch wirtschaftlich schwierige Situation ihres Heimatlandes: „Seit Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine bemühen sich die kirgisischen Behörden um eine gangbare Position, die es ihnen ermöglicht, einerseits einen Konflikt mit dem strategischen Partner Russland zu vermeiden, andererseits von internationalen Sanktionen verschont zu bleiben und drittens ihre große Migranten-Diaspora in Russland in Sicherheit zu bringen.“

Rücküberweisungen wichtig für die Familien in der Heimat

Die Abhängigkeit von Rücküberweisungen von zentralasiatischen Arbeitsmigranten, die in Russland arbeiten, droht vor allem in Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan zu wirtschaftlichen Kollateralschäden der Sanktionen gegen Russland zu führen. Laut dem Migration and Development Brief der Weltbank betrug 2021 der Anteil der Rücküberweisungen am Bruttoinlandsprodukt in Kirgistan 29 Prozent und in Tadschikistan 27 Prozent, der dritt- bzw. vierthöchste Wert weltweit. Usbekistan erhielt 2021 mit 7 Milliarden US-Dollar den drittgrößten Betrag an Rücküberweisungen weltweit, nach der Ukraine mit 15,1 und Russland mit 9,8 Milliarden Dollar. Nicht nur die Abwertung des Rubels, auch der Verlust von Arbeitsplätzen in Russland lässt die Rücküberweisungen nach Zentralasien nun drastisch schrumpfen und bringt damit Hunderttausende in den Heimatländern in wirtschaftliche Not.

„Der derzeitige ,neutrale‘ Status Kirgistans gegenüber dem Krieg“, so die Politologin Doolotkeldieva, „sollte vor dem Hintergrund dieser bitteren Realität verstanden werden.“ Sie sieht auch längerfristig Bedrohungen für die Region, denn „der Krieg in der Ukraine hat reale und unmittelbare Auswirkungen auf die Stabilität der Regime in Zentralasien und das wirtschaftliche Überleben der zentralasiatischen Staaten.“ Zuerst die Covid-Pandemie und nun eine wirtschaftliche Rezession „könnten zu einer sozialen Explosion in vielen verarmten Ländern der Region führen. Wir wissen, dass autoritäre Regime dazu neigen, auf sozialen Druck zu reagieren, indem sie zu mehr Repressionen im eigenen Land greifen.“

Bevölkerung in Kasachstan steht hinter der Ukraine

Autorin

Edda Schlager

lebt seit 2005 in Almaty in Kasachstan und reist regelmäßig in die zentralasiatischen Nachbarländer. Sie arbeitet als Korrespondentin für SRF, Deutschlandfunk, ORF, den Cicero und n-ost, das Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung, und berichtet für weitere deutschsprachige Printmedien und Radiosender aus Zentralasien.
Auch Kasachstan, das wirtschaftlich stärkste der zentralasiatischen Länder , ist in einer Art Zwangslage gegenüber Russland. Zu Beginn dieses Jahres hatten zunächst friedliche Proteste gegen die Regierung, dann blutige Ausschreitungen das Land an den Rand eines Regimesturzes gebracht. Nur dank zu Hilfe geeilter Truppen des von Russland geführten Militärbündnisses OVKS behielt Präsident Kassym-Jomart Tokayev das Heft in der Hand. Nach dem Dienst, den Putin Tokayev mit dieser schnellen Hilfe geleistet hat, könnte er in einem sich über die Ukraine hinaus ausweitenden Konflikt Gefolgschaft von Kasachstan fordern – als Ausgleich für die Unterstützung im Januar.

Doch der kasachische Präsident Tokayev muss vorsichtig vorgehen. Denn die Bevölkerung in Kasachstan steht größtenteils hinter der Ukraine. Zahlreiche Demonstrationen und Hilfsaktionen zu ihrer Unterstützung in den vergangenen Wochen haben den großen Rückhalt für die Ukrainer in Kasachstan gezeigt. Die kasachische Führung, die diese Sympathiebekundungen in autoritärem Reflex leicht unterdrücken könnte, lässt die Bevölkerung hier offenbar bewusst gewähren. Würde Tokayev sich offen auf die Seite Russlands stellen, könnten Proteste wie im Januar schnell wieder aufflammen.

Besinnung auf die eigene Identität

Die Politologin Doolotkeldieva sieht in der derzeitigen Situation aber durchaus auch Gutes für Zentralasien. „Wir beobachten einen Aufschwung des Aktivismus an vielen Fronten: Wirtschaftskreise und zivilgesellschaftliche Gruppen fordern den Austritt Kasachstans und Kirgistans aus der Eurasischen Union und dem Militärblock OVKS; Diskussionen unter Historikern und Sozialwissenschaftlern über das Potenzial der Selbstbestimmung unserer Länder und dergleichen.“ Derzeit scheinen sich die Menschen in den zentralasiatischen Ländern in einer Art zweiter Unabhängigkeitsbewegung nochmals auf die eigene Identität zu besinnen.

„Es scheint, als ob sich ein Raum geöffnet habe, in dem solche kritischen Gespräche jetzt freier und sicherer geführt werden können“, so Doolotkeldieva. Dies verspreche neue Möglichkeiten im kulturellen, literarischen und wirtschaftlichen Bereich, „wenn auch konkrete politische Projekte aufgrund der Unterdrückung durch die Regime schwieriger zu verwirklichen sind.“

Auch Vladislav Kirilin ist sich darüber im Klaren, dass Kasachstan auch unabhängig von der derzeitigen Krise zahlreiche politische Probleme bewältigen muss. „Ich plane derzeit nicht weiter als einen Tag“, sagt er, „aber möglicherweise werde ich ein Jahr, vielleicht auch zwei in Kasachstan bleiben.“ Nach Russland, erklärt er mit schwerem Herzen, könne er vielleicht nie wieder zurückkehren. „Wo es mich dann von hier aus hin verschlägt, wird die Zeit zeigen.“

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erschienen in Ausgabe 6 / 2022: Afrika schaut auf Europa
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