Menschenrechtsverletzungen zu dulden oder zu fördern – nicht zuletzt zum Nutzen der eigenen Rüstungsindustrie. Ein Beispiel ist Frankreichs Zusammenarbeit mit Ägypten.
Die unabhängige investigative Website Disclose hat im November 2021 enthüllt, dass Frankreich in außergerichtliche Hinrichtungen von Dutzenden Zivilisten verwickelt ist – begangen vom ägyptischen Regime unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung. Disclose hatte Zugang zu Hunderten geheimer Militärdokumente, die zeigen, wie Ägypten eine gemeinsame Militäroperation für willkürliche Hinrichtungen nutzt.
Die Vorgänge begannen 2016 im Rahmen einer streng geheimen Operation. Codename: Sirli. Operationsbasis: die Region der Hafenstadt Marsa Matruh im Nordwesten Ägyptens. Ziel: Sicherung der 1200 Kilometer langen Grenze zu Libyen, wo die Sicherheitslage chaotisch ist, gegen das Einsickern von Terrorgruppen nach Ägypten.
Frankreich entsendet dazu insgesamt zehn Agenten seines Militärischen Nachrichtendienstes (Direction du Renseignement Militaire, DRM): Vier Geheimdienstmitarbeiter und sechs ehemalige Armeeangehörige, die in die Privatwirtschaft gewechselt sind, fliegen in aller Stille mit Touristenvisa nach Kairo. Von dort bringt ein Bus sie zur Kommandozentrale der Operation. Ihre Aufgabe ist, mit Hilfe eines kleinen, mit Überwachungstechnik ausgerüsteten Flugzeugs die riesige Wüste zu kontrollieren, die sich vom Nil bis zur libyschen Grenze erstreckt.
Die Mobilfunkgespräche, die sie dabei abhören, leiten sie an den ägyptischen Militärgeheimdienst weiter. Offizielles Ziel ist es, Terrorgruppen aufzuspüren, die das Gebiet durchqueren könnten. Doch schon bald kommen den französischen Agenten Zweifel an den wahren Absichten ihrer ägyptischen Partner. Sie versuchten, ihre Vorgesetzten zu alarmieren. Disclose veröffentlicht einen ersten Vermerk vom April 2016, nur zwei Monate nach Beginn der Operation Sirli, der aus einem Bericht der DRM stammt. Danach ist es die Absicht der ägyptischen Armee, „direkte Aktionen gegen Schmuggler durchzuführen“.
Strafschläge außerhalb jedes Rechtsrahmens
Von da an wächst das Misstrauen der Agenten vor Ort, und die Hinweise an den Chef des französischen Generalstabs häufen sich. Demnach nutzt die ägyptische Luftwaffe die von den Franzosen gelieferten Daten in Echtzeit für die „dynamische Zielerfassung“ von Schmuggelfahrzeugen. Mit anderen Worten: Sie greift aus der Luft Zivilisten an, die teils mit harmlosen Dingen wie Reis und Make-up handeln, teils mit Waren unter Einfuhrbeschränkung wie Tieren oder Zigaretten, manchmal auch mit heißer Ware wie Waffen und Drogen, oder die Menschen schleusen. Das sind Strafschläge außerhalb jedes Rechtsrahmens.
Autor
Martin Roux
ist Journalist mit Sitz in Kairo. Eine frühere Fassung des Textes ist auf Französisch erschienen bei https:\orientxxi.info.Doch Disclose kann anhand durchgesickerter Dokumente belegen, dass am 22. September 2016 auf eben diese Weise acht Fahrzeuge attackiert wurden. Insgesamt hat Frankreich demnach zwischen 2016 und 2018 an 19 Luftangriffen auf Zivilisten mitgewirkt, bei denen mehrere Dutzend Menschen ums Leben kamen. Ein Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Terrorismus ist nicht zu erkennen. Im Übrigen spiele Kairo die Terrorgefahr bewusst hoch, meint der Libyen-Spezialist Jalel Harchaoui gegenüber Disclose.
Die französischen Verantwortlichen stellen sich taub
Schlimmer noch: Frankreich war möglicherweise sogar in folgenschwere Pannen der besagten ägyptischen Luftschläge verwickelt. So wurde am 5. Juli 2017 Ahmed El-Fiki in der Überwachungszone der Sirli-Mission Ziel eines solchen Bombardements. Der aus Kairo stammende Ingenieur, der seit langem in der Region arbeitete, und zwei seiner Kollegen waren auf der Stelle tot.
Angesichts dieses eklatanten Missbrauchs fordern die französischen Agenten, die Operation strikt einzugrenzen. Ihre Appelle verhallen jedoch sowohl in der militärischen Hierarchie wie im Élysée-Palast – das Amt des Präsidenten wird Anfang 2019 im Vorfeld der Reise von Präsident Emmanuel Macron nach Ägypten informiert. Die französischen Verantwortlichen stellen sich taub, weil sie andere Prioritäten haben: Seit dem Putsch vom 3. Juli 2013, der in Kairo Marschall Abdel al-Fattah al-Sisi ans Ruder gebracht hat, ist Frankreich vor allem an lukrativen Waffengeschäften mit Ägypten interessiert.
Die Gelegenheit dazu bot sich schon direkt nach dem Putsch. Im August 2013 töteten ägyptische Sicherheitskräfte auf dem Rabaa-Platz im Osten Kairos fast 1000 friedliche Demonstranten, die die Rückkehr des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi gefordert hatten. Am Tag danach erklärte der amerikanische Präsident Barack Obama, die Militärhilfe der USA für Ägypten auszusetzen. Zwar schloss sich Frankreich gemeinsam mit den anderen europäischen Ländern an und fror den Export von Ausrüstung ein, die für Unterdrückungsmaßnahmen verwendet werden könnte.
Doch weniger als drei Monate später offenbart eine Mitteilung an den Chef des Generalstabs die tatsächlichen Absichten von Paris. „Das [ägyptische] Verteidigungsministerium, das frei über schätzungsweise mehr als 10 Milliarden Euro verfügt, [...] verfolgt das unmittelbare Ziel, sowohl sein Material als auch seine Infrastruktur zu modernisieren, bevor eine neue demokratische Regierung über diese Mittel Rechenschaft verlangen kann“, heißt es in einem von Disclose enthüllten Dokument. Und Frankreich ist bereit, der Militärjunta hierbei behilflich zu sein.
Zweitgrößter Kunde der französischen Rüstungsindustrie
Während jede Form der Opposition in Ägypten gnadenlos verfolgt wird, findet im September 2014 ein erstes Treffen zwischen Jean-Yves Le Drian, damals Verteidigungsminister unter Präsident François Hollande, und dem ägyptischen Präsidenten al-Sisi statt. Es folgt eine Flut von Verträgen. Ägypten ordert vier Korvetten des staatlichen Schiffsbaukonzerns Naval Group, Anfang 2015 dann 400 Raketen der Hersteller Safran und MBDA, vor allem aber 24 Kampfflugzeuge des Typs Rafale von Dassault Aviation. Gesamtwert der Käufe: 6,2 Milliarden Euro. Laut dem Stockholmer Institut für Friedensforschung (SIPRI) wird Ägypten so innerhalb weniger Monate zum drittwichtigsten Kunden der französischen Rüstungsindustrie hinter Saudi-Arabien und Indien.
Die vom Verteidigungsministerium gelenkte „Waffendiplomatie“ drängt die Dienststellen des Außenministeriums in die zweite Reihe. Dessen Einwände, militärische Ausrüstung könne für Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Bevölkerung eingesetzt werden, werden 2016 zweimal für die Lieferung gepanzerter Fahrzeuge der Typen Titus und Bastion beiseite gewischt.
Die Partnerschaft zwischen Frankreich und Ägypten hat den Präsidentenwechsel von Hollande zu Emmanuel Macron unbeschadet überstanden. Ihr wichtigster Architekt, Jean-Yves Le Drian, wird unter dem neuen Präsidenten Außenminister und kann die Zusammenarbeit mit Ägypten fortsetzen. Schon kurz nach der Wahl von Emmanuel Macron zum Präsidenten im Jahr 2017 versichert Le Drian den Gesprächspartnern bei seinem achten Besuch in Kairo, dass sie weiter mit Waffenlieferungen rechnen könnten. Im Mai 2021 bestätigt Ägypten laut weiteren Enthüllungen von Disclose den Kauf von 30 Rafale-Kampfjets im Wert von 3,95 Milliarden Euro mit Hilfe eines von Frankreich garantierten Kredits über 85 Prozent der Summe. Damit ist Kairo nun zweitgrößter Kunde der französischen Rüstungsindustrie.
„Überwachung made in France“ in Ägypten
Und für die geht der Geldsegen noch darüber hinaus. Disclose hat auch ans Licht gebracht, dass drei französische Unternehmen mit dem Segen der Pariser Behörden ein umfassendes Überwachungssystems in Ägypten aufgebaut haben: Nexa Technologies, Dassault Systèmes sowie Ercom-Suneris – dieses ist seit 2019 eine Tochtergesellschaft von Thales, an dem der französische Staat mit 25 Prozent beteiligt ist. Die drei Firmen haben seit 2014 im Auftrag des ägyptischen Militärgeheimdienstes hoch entwickelte Systeme zur Internetüberwachung, zum Abhören von Telefongesprächen, zur Geolokalisierung in Echtzeit und zur Verarbeitung der gesammelten Daten geliefert.
Mit dieser „Überwachung made in France“ zieht das Regime die Schlinge um die ägyptische Gesellschaft noch enger. Mehr als 60.000 Regimegegner sitzen bereits hinter Gittern. Menschenrechtsaktivisten, Anwälte, Journalisten, Oppositionelle, aber auch Homosexuelle oder Nutzer des Videoportals TikTok: Allen, die aus den vom Militärregime vorgegebenen Bahnen ausbrechen, droht Gefängnis.
Für den Aktivisten Mohamed Lotfi ist die „logistische Beteiligung des französischen Staates an schwersten Menschenrechtsverletzungen“ ein Schock. „Präsident Macron muss sich als Partner des ägyptischen Volks, nicht der Regierung zeigen, und dem ein Ende setzen“, plädiert der Direktor der Ägyptischen Kommission für Rechte und Freiheiten, einer der letzten in Ägypten tätigen Menschenrechts-NGOs. Lotfi fordert auch, eine unabhängige Untersuchungskommission der Vereinten Nationen einzusetzen „im Namen der Ägypter, die den Preis für diese Zusammenarbeit bezahlt haben“.
Forderungen nach internationaler Untersuchung und juristische Klagen abgeschmettert
Die Schweizer Menschenrechtsorganisation „Comitté pour la Justice“ schließt sich dieser Forderung an. Ende 2021 hat sie sich deshalb an die UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte bei der Bekämpfung von Terrorismus gewandt. Die NGO fordert eine internationale Untersuchung der Verantwortung Frankreichs für die von Ägypten begangenen außergerichtlichen Hinrichtungen.
In Frankreich scheinen indes die Rechtsmittel ausgeschöpft. Abgeordnete der zum linken Spektrum zählenden Partei La France Insoumise haben einen Untersuchungsausschuss zu den Auswüchsen der Partnerschaft Frankreich-Ägypten beantragt, den die Mehrheit des Präsidenten im Parlament abgelehnt hat. Auch im Senat, der zweiten Kammer, ist solch eine Initiative gescheitert.
Abgeordnete der französischen Grünen (Europe Écologie-Les Verts) haben ihrerseits vor der französischen Justiz Klage eingereicht gegen Verteidigungsministerin Florence Parly und ihren Vorgänger Jean-Yves Le Drian. Im Januar hat der Generalstaatsanwalt am Obersten Gericht und Mitglied des Staatsgerichtshofs, François Molins, die Vorwürfe jedoch als „haltlos“ bezeichnet: Eine solche Partnerschaft falle in den Bereich des „Regierungshandelns“.
Die Verteidigungsministerin bleibt im Amt – und klagt ihrerseits
Die Verteidigungsministerin bleibt also auf ihrem Posten. Die nach den Enthüllungen von Disclose eingeleitete interne Untersuchung, die als „geheim“ eingestuft ist, hat keine Fehlleistungen der Operation Sirli zutage gefördert und ihr „klare Richtlinien“ bescheinigt. Mehr Erfolg hatte eine im November eingereichte Klage der Ministerin: Eine gerichtliche Untersuchung gegen unbekannt wegen „Verletzung von Geheimnissen der Staatsverteidigung“ ist eröffnet worden. Die Journalisten von Disclose sind gleichwohl nicht vom französischen Inlandsgeheimdienst angehört worden.
Weder in Frankreich noch international sind also Ermittlungen aufgenommen worden, um die Beteiligung des französischen Staats an den Verbrechen aufzuklären. Und am 20. Januar dieses Jahres hat sich Florence Parly geweigert, eine Anfrage des Geheimdienstausschusses im Zusammenhang mit der Operation Sirli zu beantworten mit der Begründung, eine Verordnung aus dem Jahr 1958 verbiete es, sich zu „laufenden Operationen“ zu äußern. Das kann nur heißen, dass die französisch-ägyptische Operation Sirli noch immer im Gang ist.
Aus dem Französischen von Thomas Wollermann.
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