Sie sagen, wir brauchen eine UN-Konvention, um die Rechte alter Menschen zu schützen. Haben wir nicht schon genug Menschenrechtsinstrumente, die auch für Ältere da sind?
Im bestehenden Menschenrechtssystem gibt es nur eine einzige Konvention, die Ältere ausdrücklich einbezieht, sie dient dem Schutz von Arbeitsmigranten. Aber alte Menschen werden vielfach diskriminiert, und es muss den Staaten klar gemacht werden, dass niemand aufgrund von Alter benachteiligt werden darf. Zudem müssen Ältere lernen, dass sie Rechte einfordern können. Oft werden die Rechte alter Menschen nicht mehr als wichtig erachtet, weil sie ohnehin bald sterben. Aber die demografische Entwicklung zeigt, dass die Altersgruppe der über 80-Jährigen auch in den Entwicklungsländern am stärksten wächst. Die Zahl der über 60-Jährigen wird sich weltweit von heute 700 Millionen auf mehr als zwei Milliarden im Jahr 2050 fast verdreifachen. Dann wird es mehr Ältere als Kinder geben.
Gegen welche Formen der Diskriminierung soll die Konvention schützen?
Alte Frauen in Entwicklungsländern werden zum Beispiel oft bei Erbschaftsfragen benachteiligt. Nach dem Tod des Ehemanns holt sich der Bruder die Hütte und die Frau geht leer aus.
Das kann aber auch junge Frauen treffen.
Ja, aber es trifft schon vor allem ältere Frauen. Eine Konvention müsste das aufgreifen. Oder im Gesundheitsbereich: Hier müsste die Konvention festlegen, dass Gesundheitssysteme sich auf die Bedürfnisse einer älter werdenden Gesellschaft einstellen müssen. Der Großteil der Mittel geht noch immer in ansteckende Krankheiten, aber die meisten Menschen sterben an chronischen Erkrankungen. Und das sind vor allem Ältere. 60 Prozent der Alzheimer-Erkrankungen werden in Entwicklungsländern verzeichnet und das wird zunehmen.
Gibt es regionale Unterschiede im Umgang mit alten Menschen?
Viele Kulturen erachten Ältere als wertvoll und wichtig. Das hat sich historisch entwickelt: Ein hohes Alter erreichten nur wenige, Erfahrungen und Geschichten wurden nur mündlich weitergetragen. Diese Bedeutung nimmt aber ab, weil es immer mehr Ältere gibt und mehr Dokumentations- und Informationsmöglichkeiten. In ländlichen Regionen, ich habe das gerade in Äthiopien gesehen, gibt es noch einen gewissen Familienzusammenhalt. Aber mit der Verstädterung vereinsamen alte Menschen zunehmend und werden immer häufiger Opfer von Menschenrechtsverletzungen.
Wie reagieren Sie bei HelpAge darauf?
Wir haben gute Erfahrungen mit dem Einsatz von Freiwilligen bei der Pflege zu Hause. Regelmäßige Besuche und Betreuung sind am besten geeignet, die Einsamkeit aufzubrechen. Außerdem unterstützen wir in vielen Ländern Selbsthilfegruppen für ältere Menschen, teilweise verbunden mit Rechtsberatung oder wirtschaftlichen Aktivitäten. Damit machen wir gute Erfahrungen. Viele Ältere sagen: Endlich finde ich mal jemanden, mit dem ich meine Probleme besprechen kann. Außerdem wollen wir das Selbstbewusstsein Älterer stärken. In Tansania werden jährlich etwa 500 alte Frauen umgebracht, weil sie für Hexen gehalten werden. Und viele alte Frauen werden überfallen und vergewaltigt. Wir bieten jetzt erstmals Selbstverteidigungskurse an, damit sie lernen, sich zu wehren.
Sie haben vor zwei Jahren in einem Beitrag geschrieben, die Entwicklungszusammenarbeit habe einen „blinden Fleck“ im Umgang mit Älteren. Ist das immer noch so?
Ja. Wir haben vor kurzen untersucht, wie viel der internationalen Nothilfe dieser Zielgruppe zugute kommt: gerade einmal 0,2 Prozent der Ausgaben im Rahmen des UN-Systems zwischen 2007 und 2010. Oder bei HIV/Aids: Hier werden keine HIV-Infizierten erfasst, die älter als 49 Jahre sind. Das heißt, ab 50 stellt man keine Risikogruppe mehr dar. Aber die sexuelle Aktivität lässt ja in diesem Alter nicht nach. Laut Schätzungen sind drei Millionen über 50-Jährige HIV-infiziert, trotzdem werden sie in die Programme nicht einbezogen. Ältere betreuen in Afrika außerdem etwa die Hälfte aller Aidswaisen, haben also einen guten Zugang zu Jugendlichen. Sie könnten eine große Rolle bei Aufklärung und Prävention spielen, aber das wird nicht genutzt.
Sehen Sie weitere Fähigkeiten von alten Männern und Frauen, die gezielter genutzt werden könnten, zum Beispiel in der Entwicklungszusammenarbeit?
In Peru kehren zum Beispiel viele Menschen, die vor der Guerilla-Organisation „Leuchtender Pfad“ in Städte geflohen sind, in ihre ländliche Heimat zurück. Aber viele von ihnen wissen nicht mehr, wie man dort überlebt. Die Alten fangen deshalb an, traditionelle Saatgutsorten zu kultivieren, um die Nahrungsmittelsicherheit zu gewährleisten. Oder sie gehen mit ihren Enkeln in den Wald und suchen nach Kräutern und Heilpflanzen, wenn es keine medizinische Versorgung gibt. Auch bei der Vorbeugung von Katastrophen können sie mit ihren Kenntnissen einen Riesenbeitrag leisten.
Wird im Zeitalter von Internet und Suchmaschinen das Erfahrungswissen nicht weniger wichtig?
Wir erleben, dass das praktische Wissen neben den technischen Zugängen einen hohen Stellenwert hat. Ein älterer Mensch sagt, ich lebe da jetzt seit 20 Jahren und weiß genau, wo bei Starkregen das Wasser durchläuft. Das hilft uns, wenn wir wissen wollen, wie gefährdet eine Region ist, und gibt uns Hinweise, wo wir etwa einen kleinen Damm bauen müssen.
Das Gespräch führte Gesine Kauffmann.
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