Als sie durch die Straßen Hamburgs lief, ist Masrat Zahra als Erstes aufgefallen, was fehlt: Soldaten. „Wo ich herkomme, sind sie überall“, sagt die 28-Jährige. „Bei uns kommt ein Soldat auf sieben Menschen.“ Ihre Heimat Kaschmir ist eine der am stärksten militarisierten Regionen der Welt. Vom Alltag in diesem Fleckchen Erde, um das sich Indien und Pakistan seit 1947 streiten, erzählt sie in einem Hamburger Café. Derzeit lebt sie in der Hansestadt als Stipendiatin der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte.
„Jede Frau in Kaschmir kennt das Gefühl, sich morgens von Vater, Sohn oder Ehemann zu verabschieden und nicht zu wissen, ob sie ihn je wiedersieht.“ Wie zum Beweis zieht sie ihr Handy aus der Tasche und zeigt Bilder, die sie über Twitter erhalten hat. „Hier: Gestern wurden drei unbewaffnete Jugendliche auf der Straße erschossen. Einfach so.“ Immer wieder erzählt Zahra von solchen Vorfällen, von der Willkür der indischen „Besatzungssoldaten“, wie sie sagt, von der Angst als ständigem Begleiter. Zahra kommt aus Srinagar, einer Stadt, die bekannt ist für ihre Seen und Gärten, für Hausboote und den Blick auf das Himalaya-Gebirge. Das tägliche Leben steht in starkem Kontrast zu dieser landschaftlichen Schönheit.
Der Kaschmir-Konflikt
Der Streit um das Gebiet im Himalaya geht auf die Dekolonisierung von Britisch-Indien zurück, das 1947 in das säkulare Indien und das muslimische Pakistan geteilt wurde. Die Bewohner des Fürstenstaates ...
Masrat Zahra ist die erste weibliche Fotojournalistin in Kaschmir. Sie fotografiert vor allem Frauen und Kinder, dokumentiert aber auch Gefechte zwischen indischen Regierungstruppen und Rebellen aus Kaschmir. „Ich musste eine gläserne Decke durchbrechen, als ich 2016 mit der Arbeit begann“, sagt die junge Frau, und der Stolz ist ihr anzuhören. Zahra kämpft seit Jahren einen doppelten Kampf: Einen politischen, in dem sie von verschiedenen Seiten bedroht wird – und einen persönlichen Kampf innerhalb der Familie, in dem es um Ehre und Moral geht. Denn die Eltern verboten ihr die Arbeit, nahmen ihr die Kamera weg, schimpften und drohten. Journalistin sei keine Arbeit für eine ehrbare Frau, sagte die Mutter, die sie lieber verheiratet sehen würde, und außerdem zu gefährlich.
Zwischen den Fronten
Die Muslimin befindet sich im wahrsten Sinne des Wortes zwischen den Fronten: Die indische Regierung hat sie bezichtigt, mit ihren Fotos gegen die Souveränität und Integrität des Landes zu verstoßen. Laut einem umstrittenen Antiterrorgesetz hätte sie ein halbes Jahr ohne Anklage in Untersuchungshaft landen und viele weitere Jahre in Haft verbringen müssen. „Als ich im April 2020 eine Vorladung der Polizei erhielt, verabschiedete ich mich mit Tränen in den Augen von meiner Mutter. Ich hatte solche Angst“, erzählt sie.
Autorin
Elisa Rheinheimer
Elisa Rheinheimer betreut als freie Mitarbeiterin den Webauftritt von "welt-sichten". Ihre Themenschwerpunkte sind Nordafrika, arabische Welt und EU-Politik.Doch das sehen nicht alle so: Als Angehörige einer Minderheit, den Schiiten – die Mehrheit in Kaschmir sind Sunniten –, wird sie auch von einigen Zivilisten argwöhnisch beäugt. Als sich das Gerücht verbreitete, sie sei eine Informantin der indischen Polizei, erhielt die Fotografin schlimme Drohungen. „Du wirst vergewaltigt werden. Du bist eine Hure. Das Haus deiner Familie wird brennen“, zählt sie auf.
In Kaschmir sind die Dinge kompliziert
Und dann sind da noch die Pakistanis: Auf dem Social-Media-Profil einer pakistanischen Terrorgruppe tauchte ihr Foto auf, verbunden mit einer Morddrohung. Aber in Kaschmir sind die Dinge kompliziert: Die Terrortruppe ließ Zahra wissen, dass das nicht von ihnen stamme, sondern vermutlich eine Aktion der indischen Regierung sei. Sie solle auf sich aufpassen, sagten die Islamisten, am Ende werde sie von indischen Hintermännern umgebracht, die den Mord ihnen, den Pakistanis, in die Schuhe schieben wollten. Die indische Polizei hingegen bot ihr Personenschutz an, den die Journalistin aber ablehnte. Bodyguards könne sie nicht gebrauchen, dann würde ihre Unabhängigkeit angezweifelt.
Seit Sommer 2019 hat sich die Situation für sie und ihre Landsleute verschlechtert: Im August hat die indische Regierung den bis dahin geltenden Autonomiestatus der Region aufgehoben und Kaschmir von der Außenwelt abgeschnitten. Zehntausende weitere Soldaten wurden nach Kaschmir entsandt, lokale Politiker verhaftet, und um Unruhen und Widerstand schon im Keim zu ersticken, wurde die Telekommunikationsinfrastruktur lahmgelegt. „Es war ein totaler Blackout: kein Telefonnetz, kein Fernsehen, kein Internet – acht Monate lang“, erzählt Masrat Zahra. „Können Sie sich vorstellen, was das für mich als Journalistin bedeutet hat?“ Die indische Regierung baute zwar ein Medienzentrum auf, „aber da gab es bloß vier Computer für alle Journalisten aus ganz Kaschmir“, erinnert sie sich. „Einer war für die indische Regierungspropaganda bestimmt, zwei für männliche Journalisten und ein einziger für Journalistinnen. Alle hatten nur 15 Minuten Zeit täglich, um Mails zu checken und Artikel oder Fotos an Redaktionen zu übermitteln.“
Masrat Zahra träumt von einem unabhängigen Kaschmir, das weder zu Indien noch zu Pakistan gehört. Aber sie weiß, dass das in weiter Ferne liegt. „Der Konflikt hat ein Niveau erreicht, bei dem es nicht mehr um Gerechtigkeit geht. Nur darum, die Leichen von geliebten Menschen zu erhalten“, sagt sie. „Auch vor 2019 haben sie Leute umgebracht, aber die Familien konnten die Toten wenigstens würdig beerdigen. Heute ist das anders.“ Wenn Masrat Zahra „sie“ sagt, meint sie indische Soldaten. Über die Rolle Pakistans möchte sie nicht sprechen.
Was kommt nach der Auszeit?
Der Cappuccino, der vor ihr steht, ist in dem Café in Hamburg längst kalt geworden, ihr Stück Himbeertorte nicht angerührt. Masrat Zahra ist in Deutschland, aber in Gedanken ist sie in ihrer Heimat. Das Stipendium der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte ermöglicht ihr eine einjährige Auszeit, um zur Ruhe zu kommen, sich zu erholen. Aber was dann?
Auf die Frage, wie es weitergeht, wird sie still. Vor dem Café zündet sie sich eine Zigarette an, bläst den Rauch in die kalte Hamburger Luft. Sie ringe mit sich, sagt sie schließlich, ob sie zurückkehre oder hier Asyl beantrage. „Wenn du bleibst, bist du zwar verdammt weit weg, aber wenigstens lebst du“, hat ihr Bruder ihr geschrieben. „Wenn ich zurückgehe, bin ich in Lebensgefahr“, sagt sie. „Aber dort ist alles, was mir wichtig ist: meine Familie, meine Freunde, mein Beruf. Kaschmir ist meine Heimat.“ Bevor sie sich verabschiedet, bricht es aus ihr heraus: „Das Schlimmste ist, dass der Rest der Welt nichts von uns wissen will. Sieben Millionen Menschen leiden, und es interessiert einfach niemanden.“
Dieser Beitrag ist Teil unserer Serie "Vergessene Krisen im globalen Süden", in der wir in loser Folge die Konflikte in Ländern darstellen, die im Schatten des Krieges in der Ukraine in der medialen Brichterstattung untergehen.
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