Die Idee zu dem Papier hatten Gabriel Hachem und Ziad El-Sayegh, der eine Theologe und der andere Philosoph, beide bis vor kurzem noch Referenten beim Middle East Council of Churches (MECC). Gemeinsam mit anderen wollten sie grundsätzlich analysieren, wo die christlichen Gemeinschaften im Nahen Osten heute stehen und was das für die Kirchen dort bedeutet. Ein solcher innerkirchlicher Reflexionsprozess wird gerne als „Kairos“ bezeichnet und eigentlich hätte das Dokument auch ein offizielles „Kairos-Papier“ des Middle East Council of Churches (MECC) werden sollen. Dieser hatte die Entstehung des Dokuments anfangs auch tatkräftig unterstützt und eine breite Gruppe von Laien und Experten aus Theologie, Sozial- und Politikwissenschaften zu mehreren Workshops eingeladen.
Doch dann kamen die Proteste und die beginnende Wirtschaftskrise im Libanon dazwischen, wo der MECC seinen Sitz hat. Zudem gab es einige Personalwechsel im MECC. Dass am Ende elf Theologinnen und Theologen aus dem Libanon, Jordanien und Palästina in Eigenregie die Ergebnisse der Workshops zusammengefasst und Ende September das Papier mit dem Titel „We Choose Abundant Life“ (etwa: „Wir wählen das Leben in Vielfalt“) unter eigenem Namen veröffentlicht haben, dürfte der Wirkkraft des Papiers aber keinen Abbruch tun. Denn unter den Autorinnen und Autoren sind bekannte Namen mit guten Verbindungen in die weltweite Ökumene, etwa Najla Kassab, die Präsidentin des Reformierten Weltbundes, sowie Mitri Raheb, der international renommierte Theologe und Universitätsrektor aus Bethlehem.
Kritik an "Doppelzüngigkeit" mancher Kirchenleitungen
Inhaltlich hat es dem Papier gutgetan, dass die Autorinnen und Autoren frei von Loyalitätszwängen den Kirchenleitungen gegenüber formulieren konnten. Sie gehen Themen an, „die manche vielleicht als ungeeignet für die öffentliche Diskussion“ betrachten, wie es zu Beginn des knapp 50-seitigen Dokuments heißt. So kritisieren sie zum Beispiel die „Doppelzüngigkeit“ mancher Kirchenleitungen, die bestimmten christlichen Gruppen in Amerika und Europa gegenüber „das Leiden der Christen übertreiben, und von systematischer Verfolgung durch die Muslime sprechen“. Zuhause hingegen betonten sie, wie gut das Miteinander mit den Muslimen sei und würben für den Schutz der christlichen Gemeinschaften.
Demgegenüber halten die Autorinnen und Autoren fest, dass die meisten Christen im Nahen Osten heute davon ausgehen würden, „dass die Auseinandersetzung mit dem Islam und mit Muslimen von den Prinzipien des Miteinanders, der Annäherung und der Geschwisterlichkeit geleitet sein sollte.“ Gewalt, heißt es weiter, sei dem Islam nicht inhärent, sondern „ein anthropologisches und soziales Phänomen, das oft mit verengten, ausschließenden und überheblichen Identitätsdiskursen verbunden ist“.
Religionsfreiheit weiter unter Druck
Nach Angaben des Pew- ...
Die Autorinnen und Autoren sparen nicht mit Kritik an den Kirchen. Frauen und junge Menschen würden zu wenig beteiligt, viele Kirchenleitungen würden insbesondere große Teile der Jugend nicht mehr erreichen. Oft würden Formulierungen verwendet, „die nicht auf die Krisen eingehen, mit denen die Jugend konfrontiert ist“. Die Jugend fühle sich deshalb oft von den Kirchen entfremdet. Auch fehle in den Kirchen häufig der Mut, gegenüber politischen Führern Klartext zu sprechen: „Sie schweigen oder sehen weg bei Praktiken, welche die menschliche Freiheit und Würde verletzen.“
Interessant ist, wie die Autorinnen und Autoren die Christen in den Gesellschaften des Nahen Ostens verorten. Die ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt habe den Nahen Osten seit Jahrtausenden geprägt. Die Christen seien ein originärer Teil davon und keine Minderheit, die sich von einer Mehrheit abgrenzen müsse. Problematisch sei, dass es nach dem Fall des Osmanischen Reiches vor hundert Jahren nicht gelungen sei, zivile Rechtsstaaten aufzubauen, in denen alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Rechte haben. Zugehörigkeiten zu Religion, Ethnie und Clan dominierten nach wie vor und seien der Nährboden für Konflikte und religiösen Fanatismus. Dieser spiele eine verheerende Rolle in der gesamten Region, weswegen sich viele Christen in ihrer Existenz bedroht fühlten. Es sei allerdings ein Fehler, in der Logik der religiös oder ethnisch definierten Minderheit zu verharren, die sich angeblich nur schützen könne, wenn sie entweder den Schulterschluss mit anderen Minderheiten suche oder sich kritiklos einem autoritären Regime unterwerfe.
Ins Gespräch kommen mit Muslimen
Bisher halten sich die meisten Kirchenführer im Nahen Osten mit Kommentaren zu dem Papier zurück. Das liege allerdings auch daran, dass sie es offiziell noch gar nicht zugesandt bekommen hätten, sagt der deutsch-libanesische Theologe Assaad Elias Kattan, Professor an der Universität Münster und Mitautor. Noch könnten sie sich auf die Position zurückziehen, das Papier gar nicht zu kennen. Bei der Vorstellung Ende September hätten aber der chaldäische Patriarch Louis Sako aus dem Irak und der emeritierte Lateinische Patriarch Michel Sabbah aus Jerusalem per Video das Dokument wohlwollend kommentiert.
Sie wollten aber nicht nur Kirchenführer erreichen, sagt Kattan. Mindestens genauso wichtig sei, mit Gemeindemitgliedern, aber auch mit Muslimen und mit Partnern im Ausland über die Thesen ins Gespräch zu kommen. Das auf Arabisch verfasste Papier soll deshalb nach dem Englischen nun auch in andere Sprachen übersetzt und in Workshops, bei Konferenzen oder an Universitäten diskutiert werden.
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